„Das Stärkste der Schwachen“

■ Wenn die Gewerkschaft sich selber feiern will / Nur wenig Applaus für die Redner über ein „Soziales Europa“ / 7.000 Teilnehmer bei der Maikundgebung in der Innenstadt / Großer Andrang auf die Festzelte

Für Wladimir W. Trebuschnoj und seine Frau Dina W. Trebuschnaja sollte es der erste große Tag in der Stadt werden, in die sie vor 46 Jahren als ukrainische Zwangsarbeiter verschleppt worden waren. Gestern bekam das sowjetische Ehepaar in Bremens „guter Stube“ vorgeführt, was sich in dem Land ihrer Peiniger seit Kriegsende verändert hat. Doch neben den hehren Worten zum 1. Mai und den Absichtser

klärungen zu Solidarität und Freundschaft im künftigen Europa zeichneten die Demonstranten noch ein anderes Bild: „Ich arbeite mit giftigem Klebstoff für Daimler“, „Ich ruiniere meine Bandscheibe für Daimler“, war auf den Transparenten zu lesen. Schichtarbeiter in silbernen Folien -Schutzanzügen trugen einen Sarg mit der Aufschrift „Schichtarbeiter sterben zehn Jahre früher“ durch die Stadt. Und Kran

kenhausangestellte forderten mehr Personal, da „Patienten nicht pflegeleicht und auch nicht maschinenfest“ seien.

„Für ein demokratisches Europa mit sozialem Gesicht“ hatte Heinz Möller, Vorsitzender des DGB-Kreises Bremen, der Kundgebungsversammlung zum 1. Mai das diesjährige Gewerkschafts-Motto zugerufen. Mit einem Dutzend Mitglieder war selbst die neue IG Medien ver

treten.

Unter den rund 7.000 Mai-Demonstranten in der Innenstadt (so die Angaben der Polizei) nutzten auch ausländische Kaderparteien und exilierte BürgerInnen die Chance, auf ihre und die Situation ihrer Heimatländer hinzuweisen: Die Türken zum verbotenen 1. Mai zu Hause, Jugoslawen gegen das Kriegsrecht in der Provinz Kosovo, Iraner gegen die blutige Herrschaft des Ayatollah, die Eriträer gegen die Militärjunta in Äthiopien, die vielfach verfolgten Kurden Beispiele aus dem bunten Viel-Völkerzug zum gestrigen „Tag der Arbeit“.

Auch die in der ÖTV organisierten Richter und Staatsanwälte waren mit ihrer Forderung nach dem Wahlrecht für Ausländer vertreten. Und Bremens DGB-Chef Möller forderte in seiner Begrüßungsansprache auf dem Marktplatz lapidar, daß die Menschen, mit denen „wir arbeiten und leben“ natürlich auch „mitbestimmen“ müßten. Und der Kampf für ein soziales Europa beginne „hier, mitten unter uns, in den Betrieben und in der Verwaltung“.

Kämpferisch klagte Möller die bundesweiten Diffamierungskampagnen gegen Ausländer an. Mit seiner Kritik machte er auch vor dem Senat nicht halt, der endlich die neuen tarifrechtlichen Bestimmungen auch in den Schulen umsetzen solle. Schwer hatte es Möller trotz Mikrophon und Verstärkeranlage, gegen den kleinen, aber lauthals „Internationale Solidarität“ fordernden revolutionären Block der schwarzledernen Autonomen anzukommen.

Folgeredner Erich Herrmann, der 2. Vorsitzende von NGG

(Nahrung - Genuß - Gaststätten), bezeichnete Strategien, mit Wochenendarbeit Arbeitsplätze zu schaffen, als „blühenden Unsinn“ und erntete dafür den sonst eher spärlichen Beifall. Wenige Meter vom Marktplatz entfernt wurden trotz Tag der Arbeit bei Mc Donalds eifrig Hamburger gegrillt - nach eigener Auskunft freiwillig und für doppelten Lohn.

Mit Herrmanns Schlußwort „für ein Europa der Arbeitnehmer“ und für gewerkschaftliche Solidarität („Gewerkschaften sind das Stärkste, was die Schwachen haben“) löste sich die Mai -Kundgebung in die drei Festzelte von DGB, DKP und SPD, in Picknick-Gruppen und diverse Einzelfeste auf.

Während aus den Übertragungslautsprechern Frank Sinatra trällerte, strömten etliche mit Dackel und Kinderwagen zum Frühschoppen. Im brasilischen Samba-Rhythmus gab es vor dem Naturfreundehaus in der Buchtstraße Unterhaltung für große und für kleine DemonstrantInnen.

Die allermeisten aber zog es zum bunt-gemixten Zelt an der Bürgerweide. Dort hatten sich neben den Ausländer -Initiativen auch die Grünen mit einem eigenen Stand beteiligt - zwischen Hungerstreik-Büro, Öko-Stand und „Revolutions-Bar“ der DKP.

Das bunte Fest gegen Neofaschismus und Rassismus bezog bei türkischer Musik und internationalen Spezialitäten natürlich auch die Prominenz mit ein: Im Gegensatz zu Bürgermeister und Senat war wenigstens Rosa Luxemburg vertreten - mit Blick nach vorn, wenn auch aus Pappmache.

Birgitt Rambalski