UdSSR-Reformer werden radikaler

In Berlin tauschten sowjetische Wissenschaftler offene Worte über den weiteren Reformprozeß in ihrem Land aus / Mehrparteiensystem, Gewaltenteilung und unterschiedliche Eigentumsformen gefordert  ■  Von Hubertus Knabe

Berlin (taz)- Allein das war eine kleine Sensation: Als die Elite der wissenschaftlichen Reformdiskussion in der Sowjetunion am Freitag vor die Berliner Presse trat, saß ein Mann wie selbstverständlich mit am Tisch, den die tschechoslowakische Führung mit Schimpf und Schande aus dem Land gejagt hatte - Zdenek Mlynar, Sekretär des Zentralkomitees während des Prager Frühlings. „Ich würde es begrüßen“, mahnte er mit ruhiger Stimme, „wenn man in Moskau nunmehr auch die Intervention von 1968 ganz klar verurteilte.“

Doch der gemeinsame Auftritt des Reformers von gestern mit denen von heute ging geradezu unter angesichts des Feuerwerks geistiger Erneuerung, das die zehn sowjetischen Gesellschaftswissenschaftler vergangene Woche in der Westberliner Evangelischen Akademie drei Tage lang entzündeten. Sie waren auf Einladung der Freien Universität gekommen, um mit den Koryphäen der westdeutschen Kommunismusforschung über das politische System der Sowjetunion zu diskutieren.

Es war, als hätten die Teilnehmer über Nacht die Rollen getauscht: Hier die sprühenden Sowjets, die mit der Misere des Sozialismus unerbittlich ins Gericht gehen - dort die bedächtigen Professoren aus dem Kapitalismus, die vor Übertreibungen warnen und den ethischen Gehalt der sozialistischen Idee in Erinnerung rufen.

„Sie sagen“, meinte einer der westlichen Zuhörer am zweiten Tag zu den sowjetischen Reformern, „zum wahren Sozialismus gehören Markt und unterschiedliche Eigentumsformen, Gewaltenteilung und Mehrparteiensystem und außerdem die Integration in die internationale Arbeitsteilung. Das aber sind die klassischen Prinzipien des Kapitalismus.“

Die Sowjets, unter ihnen so prominente Wortführer der Reform wie Jewgenij Ambarzumow und Anatolj Butenko, ließen sich durch solche Einwände nicht davon abbringen, für die Erneuerung ihres in die Sackgasse geratenen Systems radikale Schritte ins Auge zu fassen. „Manche Leute“, sagte Viktor Kisseljow vom „Institut für Ökonomie des sozialistischen Weltsystems“, „nennen unser System einen 'deformierten Sozialismus‘, der nur wieder auf den richtigen Weg gebracht werden müsse. Doch diese Auffassung ist naiv. Das ist, als wenn man in ein zerquetschtes Auto einen neuen Fahrer setzt

-es fährt trotzdem nicht los.“

Die Debatte über die Ursachen des Desasters, in das der sowjetische Sozialismus geführt hat, war das eine der beiden großen Themen dieser Tagung. Mit Witz und ungebremster Diskussionsfreude stritten die Sowjets auch untereinander, wann und warum der revolutionäre Aufbruch des 20. Jahrhunderts zur leblosen Diktatur pervertierte.

Einigkeit bestand in der Beurteilung von Stalin, dessen Regime sich heute durch immer neue Enthüllungen als nicht weniger mörderisch erweist als der deutsche Nationalsozialismus. Allein die Kollektivierung führte zur Vernichtung von fünf bis sechs Millionen Menschen - Hitler ließ etwa ebensoviele Juden ermorden. Nicht Ziele oder politische Struktur waren gleich, wohl aber war es die Qualität des Schreckens.

Kisseljow wandte sich dann auch gegen Lenin, auf dessen Fehler all das zurückginge, was vor Stalins „Sozialismus in einem Lande“ in der Sowjetunion geschehen sei. „Die Revolution ist nach der Freiheit gekommen, denn von 1905 bis 1917 herrschte die freieste Zeit in Rußland.“

Und er kritisierte Marx, dessen humanitäre Ansätze durch den später von ihm postulierten Klassenstandpunkt beseitigt worden wären. „Eine extreme Position“, kommentierte da sein Kollege. „Marx für das verantwortlich zu machen, was bei uns geschehen ist, bedeutet den Apparat als den eigentlichen Verantwortlichen zu entlasten.“

Das andere große Thema war die Frage, wie der Sozialismus in Zukunft aussehen müsse, um seinen eigenen Zielen Rechnung zu tragen. Jedenfalls nicht so, wie er in der Sowjetunon entstanden sei, sagte Amarzumow, sondern als eine Synthese von Kommunismus und Sozialdemokratie. Voraussetzung dafür sei die Entwicklung eines Rechtsstaates und einer zivilen Gesellschaft.

Kisseljow konkretisierte, der zukünftige Sozialismus müsse auf vielfältigen Eigentumsformen und einer Staatsform beruhen, in der die Menschenrechte und die geistige Freiheit gewährleistet seien. Er solle nicht „über dem Kapitalismus“ stehen, sondern eine auf einem eigenen Wertsystem beruhende Alternative schaffen. „Die Grenze zwischen Kapitalismus und Sozialismus ist sehr relativ geworden. Wir brauchen die Erfahrungen des Kapitalismus, der viele Errungenschaften der Weltzivilisation hervorgebracht hat.“

Dann überraschten die Reformer mit Überlegungen, daß auch in der Sowjetunion ein Mehrparteiensystem eingeführt werden sollte. „Eine große Zahl sowjetischer Gesellschaftswissenschaftler“, sagte Leonid Gordon vom „Institut für internationale Arbeiterbewegung“, „ist der Auffassung, daß das Mehrparteiensystem die beste Form des politischen Pluralismus ist, die die Menschheit bisher geschaffen hat. Denn Demokratie ist nur dann Demokratie, wenn ein offener Kampf und ein institutionalisierter Wettstreit der politischen Kräfte stattfindet.“

Und Gordon verwies auf eine Erklärung des sowjetischen Außenamtssprechers Gerassimow in der Zeitung 'Iswestia‘, wonach immer mehr Parteimitglieder ein Mehrparteiensystem unterstützten. Allerdings hatte Gerassimow hinzugefügt, daß das mit den Parteiprinzipien „nicht vollkommen“ übereinstimme.