Die Polizistenmütze im Gefrierfach

■ Dona Lucia (50) ist seit Jahren aktiv in der Gruppe der Familienangehörigen politischer Gefangener

Gedränge und Geschiebe wie jeden Mittag auf dem „Paseo Ahumada“, der Fußgängerzone im Zentrum von Santiago. Zwischen den StraßenhändlerInnen, Musikanten, Schuhputzern, Geldwechslern und Zeitungskiosken immer wieder Stände, an denen fleißig Unterschriften gesammelt werden für verschiedene Parteien oder die arg bedrängte „Vicaria de Solidaridad“. Unterschriften sammeln ist groß in Mode. Plötzlich übertönen Rufe den Lärm. Frauen, zwei Dutzend oder mehr, nähern sich in lockerem Zug dem großen Platz vor der Kathedrale. Auf den Stufen formieren sie sich zu einer Kette, halten Plakate hoch: „Freiheit für die politischen Gefangenen“ und „Keine Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen“. Einige aus dem Publikum applaudieren. Schnell ist Polizei zur Stelle, die die Demonstrantinnen von der Treppe hinunterdrängt und zur nächsten Straßenecke eskortiert. Schon herrscht wieder Ruhe und Ordnung auf der „Plaza“.

Die Frauen sind Mitglieder der „Agrupacion de Familiares de Presos politicos“ (Komitee der Familienangehörigen politischer Gefangener). Sie kommen gerade aus der „Penitenciaria“, dem Männerknast, den sie für mehrere Stunden „besetzt“ gehalten haben. Nach einem Besuch bei ihren Angehörigen dort hatten sie sich geweigert, das Gemäuer zu verlassen. Mit dieser Aktion, an der sich über 200 Personen beteiligten, unterstützen sie den Hungerstreik von rund 40 politischen Gefangenen verschiedener Organisationen, der seit über einem Monat in sechs Anstalten im Großraum Santiago geführt wird. Die Hauptforderung der Streikenden lautet: Zusammenlegung in ein oder zwei Knäste. Zu aller Überraschung hat das Regime vor wenigen Stunden dieser Forderung nun weitgehend stattgegeben. Die gefangenen Frauen sollen - bis auf eine - in einem Knast zusammengelegt werden. Die Männer - bis auf sechs - in zwei Gefängnisse getrennt von den sozialen Gefangenen in einem Trakt. Über 500 politische Gefangene gibt es zur Zeit in Chile darunter etwa 50 Frauen.

Unter den Demonstrantinnen ist Dona Lucia. Ich komme mit ihr ins Gespräch, und sie lädt mich für einen der kommenden Tage zu sich nach Hause ein. Sie wohnt nur ein paar Tage vom Nationalstadion entfernt, das die Militärs nach dem Putsch in ein riesiges Konzentrationslager verwandelten. Zum Stadion gehört auch ein großes gepflegtes Freibad, das ich gern besuche.

Dona Lucia klärt mich auf: Das Bad diente damals als Frauenlager. Tagsüber hielt man die Gefangenen in den leeren Becken, nachts wurden sie in die Umkleidekabinen zusammengepfercht. Rund 2.000 Frauen. Sie war eine von ihnen. Zwei Monate verbrachte sie dort, „eine furchtbare Zeit“. Auch ihr Mann war in Haft, wurde gefoltert und danach so zerschlagen entlassen, daß er fünf Jahre später starb. Ihr Sohn, damals knapp 17 Jahre alt und Mitglied in einer linksradikalen Organisation, ließen die Militärs drei Monate verschwinden. Als er - „pures Glück“ - wieder lebend auftauchte, drängte sie ihn, das Land zu verlassen. Er lebt seitdem in Venezuela im Exil. Ihre Tochter, später auch Repressionen ausgesetzt, ging nach Dänemärk.

Dona Lucia - ich schätze sie auf Mitte 50 - lebt heute allein. Seit 1973 ist sie aktiv in der „Agrupacion de Familiares de Presos Politicos“ (Gruppe der Familienangehörigen politischer Gefangener). Sie besucht regelmäßig Gefangene und ist fast immer dabei, wenn öffentlich protestiert wird gegen Haftbedingungen, Entführungen, Folter, Mord. „Ich kämpfe für meine Kinder. Aber auch, weil ich die Schnauze von diesen Verbrechen voll habe.“ Und sie hofft, daß es in Chile, anders als in Uruguay oder Argentinien, unter einer künftigen demokratischen Regierung keine Amnestie oder „punto final“, Schlußpunkt, geben wird, der die Militärs für ihre Verbrechen straffrei ausgehen läßt.

In Chile, so versichert sie, seien die Leute wachsamer, die Frauen mutiger. „Hier gehen die Frauen auf die Straße, die Männer sind größere Feiglinge.“ Vor den „Pacos“, den „Bullen“ habe sie schon lange keine Angst mehr. Und sie gerät richtig in Fahrt, wenn sie von den Nahkämpfen erzählt, die sie zusammen mit anderen Frauen gegen Polizisten führte. „Einmal haben wir einen bis auf die Hose ausgezogen, ihm Schlagstock, Abzeichen und sogar den Revolver abgenommen.“ Sie selbst machte sich mit der Polizistenmütze davon, die sie dann wochenlang im Gefrierschrank versteckte - aus Angst vor Hausdurchsuchungen. Denn spätestens seit den nationalen Protesttagen gilt Dona Lucia in ihrem Viertel als eine der RädelsführerInnen. Nachdem ein Junge aus der Nachbarschaft bei einem dieser Proteste von der Polizei erschossen worden war, gingen immer mehr Leute auf die Straße. Es kam zu regelrechten Schlachten mit der Polizei. Auf einem Regal in ihrem Wohnzimmer hat Dona Lucia eine Kollektion Patronen und Tränengaskartuschen aufgestellt. In jenen Zeiten traf sie sich nachts heimlich mit jungen Nachbarn, um alte Autoreifen für die Barrikaden zu präparieren. Sie wurden mit Zeitungen und alten Lappen gefüllt und dann mit Benzin getränkt. „Die brannten so toll, daß selbst ein Wasserwerfer sie nicht auskriegte.“