Niemand weiß, wie teuer die nächste Miete wird

Argentinien: Wahltag ist am 14.Mai, Zahltag schon jetzt / Der neue Wirtschaftsminister will nur noch „ein bißchen Ordnung schaffen“  ■  Aus Buenos Aires Gaby Weber

Man hatte ihm weder die galoppierende Inflation verübelt noch die Tatsache, daß der Brady-Plan Argentinien keine Möglichkeiten zur Verringerung der Auslandsschuld von 62 Milliarden Dollar eingeräumt hatte. Das Kapitalverbrechen von Juan Vital Sourrouille war eine andere.

Der argentinische Wirtschaftsminister hatte der einheimischen Finanzwelt versichert, daß die Zentralbank den Austral-Kurs durch Verkäufe ihrer Reserven stützen und damit einen weiteren Anstieg des Dollars verhindern werde. Doch Sourrouille hielt sein Versprechen nicht, und die Banker, die im Vertrauen auf seine Worte ihre Australes nicht in harte Währung eingetauscht hatten, erlitten an diesem Wochenende Millionenverluste, während sie doch sonst bei allen Währungsspekulationen stets auf der Gewinnerseite stehen. Allein der Multi „Bunge und Born“ mußte 40 Millionen Dollar abschreiben.

Anfang April, wenige Wochen vor den Wahlen, mußte Sourrouille seinen Hut nehmen. An seine Stelle rückte der 76jährige Juan Carlos Pugliese, der sein Amt mit dem offenherzigen Eingeständnis antrat: „Es geht mir gar nicht darum, mit meiner neuen Wirtschaftspolitik Erfolg zu haben. Ich will nur ein bißchen Ordnung schaffen.“

Puglieses Parole heißt: Alle staatlichen Eingriffe vermeiden und den Wechselkurs dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Zunächst einmal erfüllte Pugliese den Herzenswunsch der Gläubigerbanken und wertete den Austral massiv ab. Erfolg: Argentinien wird für Dollar-Besitzer billiger. Zweite Maßnahme war die Abschaffung des offiziellen neben dem Schwarzmarkt-Kurs. Pugliese: „Der Finanzmarkt ist völlig frei, und die Zentralbank wird nicht mehr korrigierend eingreifen.“ Wer ins Ausland liefert, dem zahlt die Zentralbank jetzt Australes zum einheitlichen Straßenkurs aus.

So will der Wirtschaftsminister erreichen, daß die Exporteure bei ihren Käufern die Zahlung ihrer Ware nicht länger verzögern, damit wieder Devisen nach Argentinien fließen. Ob er die Exporteure überzeugen kann, indem sich der Staat als Schwarzhändler betätigt? Pugliese will es ausprobieren: „Ich möchte denjenigen eine Chance geben, die daran glauben, daß der Markt sich selbst regelt.“

„Wie lange?“, fragte ihn die konservative Tageszeitung 'Clarin‘. „Eine Frist habe ich nicht, aber ich werde mir einige Tage Zeit lassen und dann sehen, ob sich die Leute gebessert haben und es wieder mehr Devisen auf dem Markt gibt.“

Durch die neuen Maßnahmen hat wenige Tage vor den Wahlen am 14.Mai eine selbst in Argentinien nie gekannte Spirale der Inflation eingesetzt. Hatte sie bereits im März 17 Prozent betragen, so wird sie im April weit über 40 Prozent liegen. Grundnahrungsmittel wie Mehl, Nudeln, Öl, Eier, Zucker und Käse sind zwischen 50 und 200 Prozent gestiegen. Weil aber Regierung und Unternehmer nur eine Lohnerhöhung von 25 Prozent zugestanden haben, ist die Kaufkraft rapide in den Keller gefallen. Der Mindestlohn liegt heute bei 35 Dollar. Bereits Ende letzten Jahres war der Reallohn um 42 Prozent gegenüber 1983 gesunken, als Regierungschef Alfonsin sein Amt antrat. Inzwischen ist der Reallohn nur noch die Hälfte wert.

Die Mieten werden jeden Monat der Inflation angepaßt - das heißt, daß niemand weiß, wie hoch seine oder ihre Miete sein wird. Da täglich mindestens einmal neue Preislisten herauskommen, verbringen die Verkäufer ihre Arbeitszeit mit dem Etikettieren der Ware. In den Supermärkten ist der Verkauf um die Hälfte zurückgegangen. Aus Angst vor Plünderungen haben die Läden ihre Sicherheitsvorkehrungen verschärft. „Die Leute kaufen kein ganzes Huhn mehr, sondern nur noch einen Schenkel“, sagt eine Marktfrau. Mehl und Zucker werden vornehmlich in 100-Gramm-Paketen gekauft, Eier nicht mehr im Dutzend, sondern stückweise.

Erfrischungsgetränke, Kinobesuch und Kleidung sind für die meisten Familien zum unerschwinglichen Luxus geworden. Um nicht in die gelobte Freiheit des Marktes einzugreifen, hat Pugliese das Einfrieren der Preise abgelehnt. „Einige Preiserhöhungen waren gerechtfertigt, andere nicht“, weiß der Minister. Es gibt zwar insgesamt 350 Inspektoren, die Jagd auf „ungerechtfertigte“ Preiserhöhungen machen sollen, aber angeblich sind sie noch nicht fündig geworden.

„Die gesamte Bevölkerung hat Schuld an der Inflation“, so Pugliese, und verweist auf die Hausfrauen, die mit Lockenwicklern vor den Wechselstuben Schlange stehen, um mit ihrem Haushaltsgeld zehn Dollars zu erwerben. Aber auch die Geldpresse läuft auf Hochtouren, denn das Schatzamt der Republik ist pleite. Rein theoretisch müßte Buenos Aires im laufenden Jahr sechs Milliarden Dollar für den Schuldendienst aufbringen. Doch man ist mit den Zinszahlungen längst in Verzug, und zugesagte Kredite sind nicht mehr ausgezahlt worden. Der IWF scheint den Kuckuck auf Argentinien geklebt zu haben.

Für Spareinlagen in Australes werden jetzt 75 Prozent Zinsen monatlich gezahlt. Für harte Dollars erhält der Sparer 75 Prozent im Jahr. Die hohen Zinsen führen zu einer weiteren Entindustrialisierung. Unter der Militärdiktatur (1976-83) war durch niedrige Einfuhrzölle und Abbau der Subventionen die nationale Produktion um 40 Prozent gesunken, und es hatte sich eine Kaste von Spekulanten gebildet, die „patria financiera“, das „Finanz-Vaterland“. Sie ist unantastbar, weil sie mit hohen Militärs, dem Agrosektor und den ausländischen Banken verbunden ist. Mit marxistischer Theorie ist die Macht der „patria financiera“ nicht mehr zu erklären. Ging Marx davon aus, daß das Rückgrat der Ökonomie die Produktivkräfte sind, ist in Argentinien der Kapitalmarkt zum ausschlaggebenden Faktor geworden, der keine Entsprechung im produktiven Bereich hat und sogar gegen ihn wirkt (eine der Errungenschafte des Spätkapitalismus, d. Red.). Für einen Unternehmer ist es sehr viel lukrativer, mit seinem Kapital auf dem heimischen Finanzmarkt zu spekulieren, als es in der Produktion zu investieren. Selbst veraltete oder kaputte Maschinen werden nicht ersetzt, weil keine Branche der Produktion die Gewinne erwirtschaften kann, die allein wegen der Zinsen nötig wären.

Die Rechnung zahlt wie immer das Volk. Denn nur zehn Prozent der ArgentinierInnen können auf das „Dollar-Fahrrad“ aufspringen. In dem mit natürlichen Reichtümern gesegneten Land ist heute Hunger ausgebrochen. Erschwerend kommt die große Dürre Anfang des Jahres hinzu, die einen bedeutenden Teil der Ernte vernichtet hat.

Daß die Militärs kurz vor der Wahl kräftig destabilisieren und ihren nächsten Putsch vorbereiten wollen, sei unwahrscheinlich; die Fäden an der Inflationsspirale haben andere gezogen, schreibt die liberale Wochenzeitschrift 'Periodista‘: „die Weizenexporteure, die ausländischen Banken und die großen Agroproduzenten“. Sie verfügen über Devisen und haben damit ihre Stellung gegenüber dem industriellen Bereich ausgebaut, der auf dem Binnenmarkt keine KäuferInnen mehr findet.

Der Präsidentschaftskandidat der regierenden UCR, Eduardo Angeloz, gewinnt der gefallenen Kaufkraft Positives ab: durch die geringen Lohnkosten werde Argentinien international immer konkurrenzfähiger. Und der peronistische Kandidat Carlos Saul Menem will Hungerrevolten vor dem 14. Mai verhindern, um dem Vorurteil seiner Partei gegenüber, Unruhen und Bürgerkrieg zu säen, keine neue Nahrung zu geben. Die peronistisch dominierten Gewerkschaften haben einen Generalstreik bis zum 14. Mai ausgeschlossen. Sie nehmen in Kauf, daß ihr traditionelles Wählerpotential aus Protest links stimmen wird. „Die ideologische Diskussion über ein Moratorium wird durch das unvermeidbare praktische Moratorium beendet werden“, glaubt 'Periodista‘. „Die bittere Realität der Dritten Welt bricht nun über unsere Gesellschaft herein, die sich stets sehr europäisch glaubte.“