Zwangsbett für den „Königlichen Fluß“

Die Loire soll gezähmt werden / Mit dem riesigen Bauprojekt soll die Wasserversorgung für Landwirtschaft, Trinkwasser und Industrie sichergestellt werden Ein intaktes Ökosystem mit seltenen Pflanzen und Tieren würde zerstört / Die Proteste von UmweltschützerInnen am Bauplatz brachten einen ersten Erfolg  ■  Aus Le Puy Alex Smoltczyk

Das Dorf Colempse hat alles, was es braucht, um bundesdeutsche Solidarität zu wecken: Unter römischen Ziegeln dämmern die wenigen Granitsteinhäuser, Lauch und Linsen stehen in Vorgärten Spalier bis hinunter zum Ufer, auf dem Tisch des Monsieur Machin steht der Liter Rouge und all dies ist dem Untergang geweiht: „Eh bien, was soll ich dazu sagen? Die werden ihren Staudamm bauen, bei all dem Geld, das die reingesteckt haben...“ Monsieur rollt das „r“ nach Art der Auvergner. Er hofft nur, daß der Baubeginn sich noch etwas hinauszögert. Man kann nichts machen, das hat er in seinen gut 70 Jahren gelernt, „die werden schon ihre Gründe haben, hier einen Stausee ins Tal Velay zu setzen, der Colempse überfluten wird“. Colempse nimmt sein Schicksal mit stoischer Gelassenheit hin, wie seit Generationen Wind und Wetter. Anders die 5.000 Menschen, die am letzten Aprilwochenende den Weg von Solignac heruntergekommen sind, um die geplante Zähmung einer der letzten Widerspenstigen im Lande zu verhindern, der Loire.

75 Kilometer Betondeiche

Seit jeher ist Frankreichs „Königlicher Fluß“ nicht nur den Jakobinern ein Dorn im Auge. Regelmäßig trocknet er im Sommer fast aus, regelmäßig treten im Frühjahr und im Herbst seine Wasser über die Ufer, nässen die Keller von Tours, Blois und Nevers; noch 1980 ertranken acht Menschen in der Nähe von Le Puy - ein unerträglicher Zustand in einem zivilisierten Land, dachten seit Ludwig dem Frommen alle Herrscher und begannen einer nach dem anderen, einen Deich zu bauen. Kein einfaches Unterfangen bei einem Strom, dessen Becken immerhin ein Fünftel des Landes umfaßt und der sein Gesicht aus Sandbänken, Inseln und Buchten jede Saison wechselt. So wurden regelmäßig alle Dressurbauten des 1.012 Kilometer langen Wildwassers im Frühjahr und Herbst hinweggespült. Die Not aller Technokraten seit Colbert wurde zum Notstand, nachdem sich die AKWs Dampierre und Belleville den Schlössern an der Loire hinzugesellt hatten: Im trockenen Sommer 1976 drohte den Türmen ihr Kühlwasser auszugehen. Also rasch einen Plan geschmiedet und eine Kommission gegründet, die „Epala“, ein Zusammenschluß von Städten, Departements und Regionen mit dem einen Ziel, die Loire zu zivilisieren. Vier Staudämme sollen ihr und ihren Zuflüssen Allier und Cher verpaßt werden, regulierbar wie Wasserhähne, die die bestehenden Dämme erhöhen und die Allier mit rund 75 Kilometer kleidsamen Betondeichen versehen werden.

Wenn die Meisterklempner ihr Werk in zehn Jahren beendet haben, werden zwischen 60.000 und 80.000 Kubikmeter Wasser pro Sekunde die Loire hinunterfließen. Wasserreservoire sollen den gestiegenen Bedarf für Landwirtschaft, Industrie und Trinkwasser decken und - ein offenes Geheimnis - dafür sorgen, daß die Nitrate und Phosphate der Loire sich gleichmäßig verteilen. Ob die derart stillgestellten Gewässer dann nicht umso eher umkippen werden? Jean Royer, Bürgermeister von Tours und Chef der „Epala“: „Das Waser wird gereinigt werden. Es ist falsch, zu sagen, daß unser Projekt die Natur massakriert - sie wird nur transformiert werden.“

Aber nicht jeder am Oberlauf der Loire ist der Meinung des Bürgermeisters. Martin Arnoud, ein junger Sportlehrer, der bei den letzten Gemeindewahlen mit 22 Prozent auf einer grünen Liste in den Rat Le Puys eingezogen ist, meint: „Außer dem Dorf Colempse werden hier hektarweise Felder, Wald und 14 Kilometer Loire-Buchten überflutet werden, die zu den besten Angelplätzen Frankeichs gehören. Außerdem leben hier 330 pflanzen- und 130 Tierarten. Der Staudamm würde ein Desaster für Fauna und Flora bedeuten, und das alles, um einige Anwohner vor dem Hochwasser zu schützen, die ohne Genehmigung in der Flutzone gebaut haben!“

Falls etwa der Damm am Oberlauf der Allier gebaut werde, könnte der Lachs nicht mehr zu seinen Brutstätten hinaufwandern. Die Hydrologin Monique Coulet von der Universität Lyon verweist auf die Einmaligkeit der Schwemmlandschaft am Rande der Loire: „Durch die regelmäßigen Fluten hat die Loire ein komplexes Ökosystem entstehen lassen, ein Gleichgewicht von Wasser-, Pflanzen und Sedimentaustausch, das durch die Staudämme gestört werden würde. Damit bricht die Regeneration des Milieus zusammen und die Reproduktion der Arten.“ Im Flußsystem der Loire konnten bis heute charakteristische Arten und Lebensgemeinschaften überleben, die man in den autobahnartigen Betonbächen Westeuropas schon längst nicht mehr kennt.

Symbol für die Öko-Bewegung

Die Gegner der Loire-Domestizierung haben sich, vom Angelverein bis zum World Wildlife Fund (WWF), der die Kampagne maßgeblich unterstützt, zum Komitee „Lebendige Loire“ (Loire Vivante) zusammengeschlossen. Diesen Staudammgegnern ist es zu verdanken, daß heute zwischen verknoteten Kiefern und den Steilwänden der Loire am Bauplatz Serre de la Fare eine menschliche Fauna zu finden ist, die man im modernitätssüchtigen Frankreich bisweilen ausgestorben wähnte: Seit Umweltminister Brice Lalonde im Februar grünes Licht für das Loire-Projekt gegeben hat und die Baumaschinen anrückten, ist der Bauplatz besetzt von grobkittligen Bartträgern hinter schnellgezimmerten Infotischen. Bislang mit Erfolg. Und das scheint auch so zu bleiben, nachdem rund 10.000 DemonstrantInnen, darunter einige hundert aus den Nachbarländern, bewiesen, daß das Einzugsgebiet des Widerstandes noch größer ist als das der Loire.

Der Fluß ist für wenige Wochen zum Symbol der neuerwachten französischen Ökologiebewegung geworden. Noch nie hatte Le Puy eine solche Demonstration erlebt wie das „Europatreffen lebendige Loire“, und noch nie schoben sich soviele Sympathisierende mit ihren Autos (denn auch die Ökoszene hat sich gewandelt) über die schmale Brücke bei Colempse. Viele, die sich am Montag am Bauplatz trafen, kannten die Schluchten der Loire, kannten Solignac und Le Puy bis vor kurzem noch nicht mal dem Namen nach. Aber das tut nichts zur Sache, denn: „In ganz Europa gibt es keinen großen, unregulierten Fluß mehr. Deswegen ist die Erhaltung der Loire eine Sache, die alle Europäer angeht. Auch Ausländer haben das Recht, zu intervenieren“, sagte Philippe Roche vom Schweizer WWF bei der Versammlung am Montag. Er forderte, den Lauf der Loire zum internationalen Schutzgebiet zu erklären. Ein erstes Ziel wurde am Wochenende erreicht: Umweltminister Lalonde versprach ein Aussetzen des Projekts Serre de la Pare, bis eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt ist. Das schreibt eine EG-Direktive zwar ohnehin vor, verschafft der widerspenstigen Loire jedoch eine kleine Schonfrist.