Die Affäre Rushdie und die europäische Zivilisation

ESSAY

Von Bahman Nirumand

Daß die ungeheure Fülle an Nachrichten und der Wust an Informationen, die uns täglich eingehämmert werden, eher zu Verwirrung und Gleichgültigkeit führen als zum Nachdenken und Handeln, muß wohl als ein unveränderbares Übel der übertechnisierten Welt hingenommen werden. Dennoch erweckt es Erstaunen, wenn auch Ereignisse, durch die sich ganze Nationen betroffen und in ihrer Substanz gefährdet fühlen, bestenfalls ein Aufflammen von Unruhe erzeugen, das sehr bald durch das rasende Tempo des Zeitablaufs erstickt wird. Zu diesen Ereignissen gehört die Affäre um den britisch -indischen Schriftsteller Salman Rusdie. Kaum zu glauben, daß sie nur wenige Wochen zurückliegt, längst in Vergessenheit geraten und zu den Akten gelegt worden ist. Die meisten EG-Länder haben ihre Botschafter wieder nach Teheran zurückgeschickt. Die Führer der islamischen Republik haben diesen Kanossagang öffentlich als Bekenntnis zu Schuld und Reue bezeichnet. Erinnern wir uns doch, wieviele Fäuste und Zeigefinger sich damals gegen den blutrünstigen Khomeini erhoben. Politiker schienen entsetzt, rasselten mit den Säbeln, sprachen von Vergeltungen und Sanktionen; Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle sahen das Recht der freien Meinungsäußerung gefährdet. Mutig, ja beinahe märtyrerhaft, stiegen sie auf die Barrikaden, verlangten die Rücknahme des Todesurteils. Doch das Urteil blieb bestehen, die Verteidigung der europäischen Zivilisation währte nur wenige Tage, der Aufstand erwies sich als ein Sturm im Wasserglas. Abermals wurde der Weltöffentlichkeit vorgeführt, daß diese so hoch gepriesene Zivilisation dort ihre Grenzen findet, wo Geld fließt, vor allem dann, wenn sich die Quellen des Profits außerhalb europäischer Grenzen befinden. Läuft hier das Geschäft, dann ist alles erlaubt: Folter, Mord, Verwüstung von Regionen, Vertreibung ganzer Völker in den Hunger, auf die Flucht, in den Tod. Was die „zivilisierten“ Europäer zumindest außerhalb ihrer Grenzen vorzuweisen haben, ist wahrlich kein Ruhmesblatt. Um dies nachzuweisen, brauchen wir uns nicht in die Vergangenheit, in das koloniale Zeitalter, zu begeben und jene Blutspuren nachzuzeichnen, die die Europäer in anderen Gegenden der Welt hinterlassen haben. Wir können ruhig bei der Gegenwart bleiben, z.B. bei Khomeini und seiner islamischen Republik. Es wird doch niemand leugnen, daß der Iran seit nunmehr einem Jahrzehnt von einer Clique beherrscht wird, die vor Massenmord, Geiselnahme, Krieg und terroristischen Aktivitäten nach innen und außen nicht zurückschreckt. Das bildet aber für die zivilisierten Europäer kein Hindernis, um mit diesen Terroristen die besten Geschäfte zu machen und acht Jahre lang durch Waffenlieferungen jenes Kriegsfeuer zu schüren, das die beiden Länder Iran und Irak verwüstet und eine Million Menschen das Leben gekostet hat. Ist es denn nicht merkwürdig, daß das europäische Gewissen, der Stolz auf die ruhmreiche Zivilisation sich auch bei den Intellektuellen kaum rührte; selbst dann nicht, als bekannt wurde, daß die chemischen Waffen, mit denen Tausende Kurden getötet und verstümmelt wurden, mit bundesdeutschen Laboranlagen hergestellt worden waren?

Khomeinis Mordgelüste sind nicht erst seit dem Todesurteil gegen Rushdie bekannt. Allein während eines Zeitraums von fünf Monaten, d.h. zwischen August und Dezember 1988 sind mehrere tausend politische Gefangene im Iran - darunter auch Künstler und Schriftsteller - hingerichtet worden. Während derselben Zeit hielten sich zahlreiche „zivilisierte“ Europäer, hohe Repräsentanten und Regierungen und Topmanager der Wirtschaft in Teheran auf, um mit den terroristischen Theokraten lukrative Geschäfte zu machen. All dies konnte die Gemüter in Europa nicht bewegen. Erst als der greise Ayatollah seine blutige Killerhand nach einem in London seßhaften Schriftsteller ausstreckte, wurde Zeter und Mordio geschrien.

Daß man dabei Khomeini auf den Leim ging, ihn als Wortführer der islamischen Welt, als der er sich aufspielen möchte, akzeptierte, und seinem beabsichtigten politischen Ablenkungsmanöver von den inneren Problemen als einen religiösen Akt deutete, ist das kleinere Übel. Daß aber gerade Intellektuelle, darunter auch die, die über jeden Verdacht rassistischer Befangenheit erhaben sind, einem Eurozentrismus unterliegen und sich genötigt sehen, künstliche Grenzen zu ziehen und, wie sie es vorgaben, die europäische Zivilisation gegen die islamische Barbarei - so wurde es nicht gesagt, aber gemeint - zu verteidigen, gibt Anlaß zu Befürchtungen. Mag diese Arroganz manchem Intellektuellen zur Selbstbefriedigung und den Konservativen zur ideologischen Vernebelung unaufgeklärter Teile der Bevölkerung dienen, vor einer objektiv urteilenden Instanz wird diese Grenzziehung nicht standhalten können. Das bedeutet nicht, daß man die Barbarei nicht deutlich beim Namen nennen sollte. Khomeinis Mordaufruf entstammt einer Welt der Barbarei, aber auch Rassismus und Fremdenhaß, die in manchen Kreisen, Gruppen und Parteien Europas immer lauter gepredigt werden, oder die zahlreichen Anschläge gegen Flüchtlinge kann man schwerlich als Ausdruck von Zivilisation bezeichnen. Wie kommt es eigentlich, daß die hiesigen Medien und die Verteidiger der europäischen Zivilisation sich nicht rührten, als ein 20jähriger iranischer Flüchtling in Tübingen auf offener Straße und vor den Augen zahlreicher Passanten von zwei Angestellten eines Supermarktes erwürgt wurde, weil er Lebensmittel im Werte von 54 Mark entwendet hatte? War etwa dieser Mord nicht barbarisch? Die Grenze zwischen Barbarei und Zivilisation verläuft völlig anders als sie in den Tagen nach Khomeinis Mordaufruf auch von Intellektuellen gezogen wurde. Es ist zwar wahr, daß die Menschenrechte zum ersten Mal in Europa proklamiert wurden. Diese Rechte sind aber längst kein Monopol der Europäer, ihre Existenz darf nicht zur Unsterblichkeit verleiten, schon gar nicht in einem Land, in dem man Auschwitz und Dachau zu verantworten hat. Die aus einem eurozentrischen Blickwinkel erfolgten Grenzziehungen ignorieren die Tatsache, daß gerade in anderen Regionen der Welt und nicht zuletzt in den islamischen Ländern der Kampf um die Verwirklichung der Menschenrechte unter unbeschreiblichen Opfern geführt wird. Khomeini verkörpert nicht die islamische Welt, selbst im Iran repräsentiert er eine unaufgeklärte, fanatisierte Minderheit, die sich durch Terror noch an der Macht hält. Das beweisen die überfüllten Gefängnisse und die ständigen Massenhinrichtungen. Khomeinis Barbarei mit dem Iran oder der gesamten islamischen Welt gleichzusetzen, ist genauso töricht, wie wenn man alle Deutschen mit den „Republikanern“ und Neonazis in einen Topf werfen würde. Daß Religionen als Vorwand für Verbrechen dienen können, kann die Geschichte des Christentums bestätigen, auch die des Islam. Statt Trennungen zu ziehen, sollten Fragen diskutiert werden.

Künstliche Grenzziehungen zwischen Europa und der Außenwelt können fatale Folgen haben, vor allem im Hinblick auf die geplante Vereinigung europäischer Staaten. Es ist doch wohl kaum zu übersehen, daß die konservativen Kräfte eine Übertragung des Nationalismus der Einzelstaaten auf Gesamteuropa anstreben. Der sich zur Zeit verbreitende Rassismus, der Haß gegen Flüchtlinge, Fremde, der von vielen Seiten tüchtig geschürt wird, könnte dergleichen Ideen Vorschub leisten. Die wirklichen Grenzen zwischen Zivilisation und Barbarei verlaufen nicht zwischen Europa und der islamischen Welt, sondern mitten in den europäischen Staaten, mitten in der islamischen Welt. So habe ich auch Rushdies Buch Satanische Verse verstanden.