Ein Prozent weniger - ein Hoffnungszeichen

Ibrahim Böhme, Mitglied der Initiative „Frieden und Menschenrechte“ in Ost-Berlin sieht in dem Ergebnis einen großen Erfolg / Wahlergebnisse wurden manipuliert / Initiative hatte zum alternativen Wahlverhalten aufgerufen  ■ I N T E R V I E W

taz: Bei dieser Wahl gibt es das erste Mal in der Wahlgeschichte der DDR keine 99,9prozentige Zustimmung, sondern „nur“ 98,85 Prozent. Für DDR-Verhältnisse immerhin eine kleine Sensation. Wie wertet ihr das Ergebnis?

Ibrahim Böhme: Abgesehen davon, daß ich dieses Wahlergebnis ausgesprochen in Frage stelle, sehe ich dabei zwei Aspekte. Zum einen ist es das Ergebnis der Bemühungen von alternativen Gruppen, die sich an die Bevölkerung gewandt haben und zu einem alternativen Wahlverhalten aufforderten. Darin sehe ich trotz der kaschierten Zahlen einen großen Erfolg. Dieses eine Prozent weniger als traditionell üblich sehe ich als eine Probe für weiteres Verhalten. Dieses eine Prozent sollte man wirklich als ein Hoffnungszeichen werten.

Apropos kaschierte Zahlen: In der Erklärung, die Sonntag nacht noch in der Elisabeth-Kirche verabschiedet wurde, ist von Wahlfälschung die Rede. Wie kommt ihr zu dieser Einschätzung?

Wir haben ja an vielen Wahlauswertungen, zumindest in Berlin, teilnehmen können. Zum Beispiel in den Bezirken Weißensee und Friedrichshain konnten wir fast alle Wahllokale in Augenschein nehmen und bei der Auszählung dabeisein. An Neinstimmen haben wir zwischen drei und zwanzig Prozent feststellen können. Das gleiche gilt für die Wahlbeteiligung. Zwischen 0,8 und 28 Prozent der Bürger haben nicht teilgenommen, wie zum Beispiel am Prenzlauer Berg. Wenn die offiziellen Wahlergebnisse stimmen würden, dann müßten - ausgehend von den Berliner Ergebnissen - die WählerInnen in der übrigen Republik zu 102 bis 103 Prozent mit Ja gestimmt haben. Außerdem, wenn wir die Ergebnisse, die jetzt in den offiziellen Medien publiziert werden, mit unseren Ergebnissen vergleichen - und in einigen Bezirken in Berlin haben wir einen fast flächendeckenden Überblick -, da kann ich nur sagen, die stimmen nicht. Da war Manipulation im Spiel.

Was heißt das konkret?

Neben der bewußten Manipulation, auf die ich hier nicht eingehen will, gibt es noch die unbewußte Manipulation, die ich für die gefährlichere halte. Die Wahlleiter wußten zum großen Teil nicht, wie Ja- und Neinstimmen zu werten sind. Oder: Bei der angeblich öffentlichen Auszählung wurde die eigene Lobby geholt, um zu verhindern, daß alternative Gruppen noch teilnehmen konnten. Das ist gerade da passiert, wo viele Neinstimmen erwartet wurden.

Insgesamt haben sich die DDR-Bürger aber doch sehr zurückgehalten, ein anderes Wahlverhalten an den Tag zu legen. Woran liegt das deiner Meinung nach?

Natürlich gibt es die Unbeholfenheit der Bürger, sich deutlicher zu artikulieren. Zum anderen hat sich die alternative Bewegung im Vorfeld der Wahl zuwenig auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt. Viele stimmten für Wahlboykott, andere für die aktive Teilnahme, indem sie mit Nein stimmten. In vielen Dingen sind wir noch viel zu sehr zerstritten und unterschiedlicher Meinung, als daß wir der Bevölkerung unsere Zielvorstellungen vermitteln könnten.

Wie sehen eure weiteren Perspektiven aus. Wie wollt ihr euch auf die Volkskammerwahl Anfang der 90er Jahre vorbereiten?

Wir sind nicht bereit, noch einmal eine Wahl in dieser Art und Weise über uns ergehen zu lassen. Wir haben aber nur zwei Möglichkeiten. Entweder die offene Konfrontation oder die Möglichkeit des geduldigen Prozesses, indem man alle legalen Möglichkeiten ausschöpft. Den ersten Weg halte ich für gefährlich. Zur Volkskammerwahl wollen wir ganz offen eigene Kandidaten aufstellen.

Das Gespräch führte Birgit Meding