Gorbatschow immer beliebter

Die Sowjetunion gegen Ende der neunziger Jahre könnte „das Mexiko Europas“ sein, prophezeiht ein ehemaliger US -amerikanischer Diplomat. Ein Mexiko Europas mit Atomwaffen allerdings, geplagt von Verschuldung, hungernd nach Importwaren und westlicher Technologie, ein Land, das sich gezwungen sieht, Freihandelszonen für kapitalistische Industrien anzubieten, während es Arbeitskräfte in die Europäische Gemeinschaft exportiert. Die sowjetische Führung könnte jedoch genausogut durch einen Volksaufstand in einer ihrer Republiken oder osteuropäischen Satellitenstaaten gezwungen werden, ihre ökonomische Umstrukturierung aufzugeben, den Zentralismus alten Stils wiedereinzuführen und zu versuchen, ihr Riesenreich mit rein militärischen Mitteln aufrechtzuerhalten. Daß Gorbatschow im Zuge einer solchen Krise von reformfeindlichen Militärs gekippt würde, glaubt zumindest US-Verteidigungsminister Cheney. Die Sowjetunion der Jahrtausendwende wird jedoch nur noch in Ansätzen dem Bild des bis an die Zähne bewaffneten weltpolitischen Rivalen entsprechen, an das man sich in den Vereinigten Staaten nur zu bereitwillig gewöhnt hat.

Sand im Getriebe

Um so schwerer fällt es dem schwerfälligen Getriebe der US -amerikanischen Außenpolitik, auf die neuen Verhältnisse umzuschalten und eine Antwort auf die Frage zu finden, ob man Gorbatschow nur mit Skepsis beobachten oder seine Reformen aktiv unterstützen sollte. Während in der vergangenen Woche Arbeiter an der ungarisch-österreichischen Grenze damit begannen, den Eisernen Vorhang mit Drahtschneidern zu demontieren, brüteten die Spitzen der Bush-Administration weiter gemächlich über der grundsätzlichen Überprüfung ihrer Moskau-Politik. Es wird noch bis Mitte Mai dauern, bis George Bush die Ergebnisse der Revision bekanntgeben wird. Sensationen erwartet niemand, obwohl die Veränderungen im Ost-West-Verhältnis seit der Wahl Bushs im vergangenen November wenn nicht sensationell, so doch zumindest dramatisch genannt werden müssen. Seit Gorbatschows Rede vor den Vereinten Nationen steht für amerikanische Kommentatoren gar die Frage auf der Tagesordnung, ob der kalte Krieg vorüber sei. Für Bush und seine außenpolitischen Vordenker Scowcroft und Baker ist dagegen Vorsicht weiterhin die Mutter der außenpolitischen Porzellankiste. Ein Ende des Wettrüstens übersteigt ihre Vorstellungsfähigkeit. Während selbst konservative Strategieexperten wie Reagans Abrüstungsunterhändler Paul Nitze fürchten, daß die in den letzten beiden Reagan-Jahren gewonnene Dynamik durch Bushs Zögerlichkeit verspielt wird, hat sich in der amerikanischen Bevölkerung ein deutlicher Wandel weg von den Denkschablonen des kalten Krieges vollzogen. Die Unterstützung für einen massiven militärischen Aufbau, die half, Ronald Reagan 1980 im Anschluß an die sowjetische Invasion in Afghanistan an die Macht zu bringen, schlug innerhalb von zwei Jahren in Befürchtungen um, daß Reagan mit seiner erbitterten Feindschaft zur Sowjetunion den Bogen überspannt haben könnte. Die amerikanische Friedensbewegung erschrak, als sie der Möglichkeit eines nuklearen Konflikts ins Auge sah. Angesichts des Abbruchs jeglicher offizieller diplomatischer Konsultationen mit Moskau etablierten friedensbewegte Aktivisten seit 1982 private Kontakte mit sowjetischen Bürgern. Inzwischen gehört der rege Austausch zwischen US -amerikanischen und sowjetischen Organisationen zum Alltag. Im vergangenen Jahr besuchten 81.000 US-Bürger die UdSSR, während knapp 35.000 Sowjettouristen in die Vereinigten Staaten reisten. „Die Arbeit dieser Austauschprogramme hat sicher einen gewissen Einfluß auf die veränderte Stimmung in der amerikanischen Bevölkerung gehabt“, schätzt Nancy Graham vom Institut für sowjetisch-amerikanische Beziehungen, das derartige Initiativen beobachtet. Umfrageergebnisse bestätigen einen weitgehenden Umschwung in der Einschätzung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen: Im Herbst 1986 glaubte nur ein Drittel der Befragten, daß sie stabil seien oder sich verbesserten, im Sommer 1988 waren es hingegen 94 Prozent. In derselben Periode ist das Ansehen Gorbatschows in der US-Bevölkerung stetig gestiegen. Im Juni 1986 hatten 51 Prozent einen „positiven Eindruck“ von Gorbatschow, im Juli 1988 83 Prozent. Zwei Drittel der Befragten glaubten, daß die neue sowjetische Politik eine „offenere und freiere Gesellschaft“ herbeiführen würde. Drei von vier US-Bürgern glauben nicht an die Möglichkeit einer direkten nuklearen Attacke durch die Sowjetunion. 70 Prozent der Befragten bestätigten die These, daß „jede gleichmäßige Reduktion der Nuklearwaffen die Welt sicherer macht“. Diese Zahlen stammen aus zwei umfangreichen Untersuchungen über die Haltung der US-amerikanischen Bevölkerung zu Fragen der Sicherheitspolitik. Eine der Umfragen wurde von drei Meinungsforschungsinstituten unterschiedlicher politischer Richtungen organisiert, die zweite Untersuchung entstand im Auftrag der Brown University in Rhode Island.

Ost-West-Antagonismus verschwindet

Eines der interessantesten Ergebnisse ist, daß mehr und mehr Amerikaner glauben, daß die Probleme der Zukunft eher globale Themen wie Aids, Umweltzerstörung oder „Terrorismus“ sein werden. Man würde das politische Bewußtsein der US -Bevölkerung allerdings kräftig überschätzen, wenn man nicht auch auf widersprüchliche Tendenzen in diesen Umfragen hinweisen würde. Viele der Befragten waren überzeugt, daß die Sowjetunion ihr Verhalten geändert hat, weil die Reagansche Aufrüstungspolitik die USA wieder in eine Position der Stärke versetzt hat. Deshalb ist ein wichtiger Prüfstein für eine weitgehende Bewußtseinsänderung die Frage, wie groß die Unterstützung für eine Kürzung der Rüstungsausgaben ist. In einer der Umfragen, die aus dem Februar 1988 stammt, sprach sich nur einer von drei Befragten für eine Reduzierung des Militärhaushalts aus. Wenn es aber darum geht, wo im US-Budget zuerst gekürzt werden soll, will eine Mehrheit dies eher beim Pentagon (55 Prozent) als bei Sozial- oder Wirtschaftsförderungsprogrammen (18 bzw. 22 Prozent) tun. Groß ist die Unterstützung hingegen für eine Umverteilung der Lasten im westlichen Bündnis. Die Bundesrepublik und Japan, die amerikanische Märkte mit ihren Exportwaren erobern, sollen mehr in den Nato-Topf werfen als bisher. Gleichzeitig haben sechs von zehn Befragten die Überzeugung gewonnen, daß „wirtschaftliche Konkurrenten eine größere Bedrohung unserer nationalen Sicherheit darstellen als militärische Gegner, denn sie bedrohen unsere Jobs und ökonomische Sicherheit“. Die alten Verbündeten werden zunehmend als die neuen Rivalen betrachtet. Um diese Herausforderung abzuwehren, müssen die Vereinigten Staaten wohl Abschied vom heißgeliebten kalten Krieg nehmen.

Stefan Schaaf (Washington)