Glaubenskrieg in der Nato

■ Gorbatschow als Ursache für den Streit zwischen Bonn und Washington Ende des kalten Krieges, neue europäische Friedensordnung und Demokratisierung in Osteuropa - das sind die Prämissen der Entspannungspolitiker innerhalb der Nato. Für die anderen bedeutet Gorbatschow Instabilität, die Auflösung des bislang gültigen Koordinatensystems mit dem drohenden Chaos als Ergebnis. Ein Raketenkompromiß ist vor diesem Hintergrund kaum denkbar

Die Wahrheit ist immer relativ. Wer es gewöhnlich mit Regierungsstürzen und anderen covert-actions zu tun hat, kann über die gegenwärtige „Krise der Nato“ nur milde lächeln. Washingtons neuer Botschafter in Bonn, Vernon Walters, ist da ganz gelassen. Es hat Krisen gegeben, ja, zum Beispiel als Frankreich den militärischen Verbund der Nato verlassen hat, aber „im Moment - das ist eine Meinungsverschiedenheit, wie wir sie im Bündnis andauernd hatten, das renkt sich ganz schnell wieder ein. Bis zum Gipfel Ende Mai wird schon gar nicht mehr darüber geredet, da wollen wir schließlich feiern“.

Dem überwiegenden Teil der Nato-Gemeinde ist jedoch nach Feiern ganz und gar nicht zumute. Nach wie vor ist die Stimmung zwischen Bundesdeutschen und US-Amerikanern auf Null. Beide Seiten fühlen sich wechselseitig schlecht voneinander behandelt, ganz einfach nicht fair. Vor allem die Veröffentlichungen über das Nato-Stabsmanöver Wintex hat amerikanische Nato-Diplomaten in Rage gebracht. Das sei, so ein amerikanischer Vertreter aus dem Brüsseler Headquarter, eine bewußte Falschmeldung unter Bruch der Nato -Geheimhaltungskriterien. Die Manöverplanung sehe in Wirklichkeit ganz anders aus, und die gezielte Indiskretion habe nur dazu gedient, die Diskussion im bundesdeutschen Interesse zu emotionalisieren. Auch das eindeutige Engagement Bundespräsident von Weizsäckers in der Raketen -Frage stößt den Amerikanern übel auf. Da werde plötzlich wieder eine Front zwischen Kontinentaleuropäern und Angelsachsen aufgebaut, Konstellationen mithin, die in Washington üble Erinnerungen an längst überwunden geglaubte Zeiten wachrufen. Solche Töne, so wird verbittert konstatiert, seien völlig unverantwortlich und letztlich dazu geeignet, ein 40jähriges Vertrauensverhältnis zu zerstören.

Starker Tabak in einer Debatte, die offiziell nur um die Frage geführt wird, welches der geeignete Zeitpunkt für die Nato sei, der Sowjetunion Verhandlungen über 88 in der BRD stationierte atomare Kurzstreckenraketen anzubieten. Tatsächlich geht es denn auch um etwas ganz anderes. Der „kalte Krieg“ zwischen Ost und West wird abgelöst durch einen „Glaubenskrieg“ West gegen West. Bei Diskussionen westlicher Strategen sitzt neuerdings immer ein unsichtbarer Dritter mit am Tisch: Michael Gorbatschow. Die Frage „Wie haltet ihr es mit Gorbatschow?“ spaltet zwar noch nicht die Nato, führt aber zu weitreichenden Irritationen, weil sie erstmals nach 40 Jahren wieder Bewegung in die bis dato festgefügten Blockinteressen bringt.

Eine illustre deutsch-amerikanische Runde machte sich diese Woche im Berliner Aspen-Institut gegenseitig unterschiedliche Rechnungen auf, welche Konsequenzen sich aus dem Gorbatschow-Faktor ergeben müßten. Im Ergebnis stehen sich zwei Positionen diametral gegenüber: Während die einen ihr Heil im engsten Schulterschluß der Nato suchen, plädieren die anderen für eine neue Offenheit gegenüber der Sowjetunion und den übrigen osteuropäischen Staaten. Übereinstimmung läßt sich, wenn überhaupt, nur noch in der Beschreibung dessen, was gegenwärtig „im Osten“ passiert, erzielen. Unwidersprochen stellte ein bundesdeutscher Teilnehmer der Diskussion fest, man könne nicht mehr von einem „Sowjetblock“ sprechen, die Auflösungserscheinungen des „östlichen Imperiums“ schreiten dramatisch voran. „Die militärische Machwährung ist im Niedergang begriffen.“ Wer jedoch glaubt, dieser Prozeß löse bei den „worst-case„ -Planern der Nato eitel Freude aus, sieht sich getäuscht. Die dadurch ausgelöste Instabilität, so der Chef der Ebenhausener Stiftung „Wissenschaft und Politik“, Michael Stürmer, sei vielmehr enorm gefährlich. Niemand wisse, wie die Entwicklung weiter gehe, welches Ausmaß beispielsweise der Nationalitätenkonflikt in der UdSSR noch annehmen könne und was diese Dynamik letztlich für Westeuropa bedeute. In unsicheren Zeiten, so das Fazit, solle man jedoch nicht seine Versicherung kündigen. Und die bestehe nun mal im Schulterschluß der Nato und der damit verbundenen klaren Anerkennung der amerikanischen Führungsrolle. Status quo ante, statt einem ungedeckten Scheck auf die Zukunft. Ein Kommentator der 'New York Times‘ hat diese Haltung mit der Bemerkung charakterisiert, die USA hätten sich so schön in den Schemata des kalten Krieges eingerichtet, daß sie jede Veränderung vermeiden wollen. Am stärksten Verunsichert sind die bundesdeutschen Sekundanten der offiziellen US-Position. Mit Begriffen, wie sie jüngst auch aus der CSU zu hören waren, wird von ihnen bitterlich über das „Sicherheitsrisiko“ Genscher geklagt. Nie in der Nachkriegsgeschichte hätte bundesdeutsche Außenpolitik so auf Risiko gesetzt. Genscher ginge in der Einschätzung der neuen sowjetischen Politik nur noch von der günstigsten Annahme aus. Man wolle bereits jetzt die Früchte verspeisen, die im besten Falle erst in zehn Jahren reif sind. Die bundesdeutsche Außenpolitik sei dabei, sich furchtbar zu übernehmen, wenn sie glaubt, eine „Führungsrolle“ in der Nato spielen zu können, die den amerikanischen Interessen zuwiderläuft. „Woraus“, so fragte ein Teilnehmer erregt, „besteht denn der kontinale Block: Bundesrepublik, Dänemark und Griechenland?“ Auf diese Alternative zu den USA könne er getrost verzichten. Das Ganze sei noch begleitet von einer sich verschärfenden Instabilität in der bundesdeutschen Innenpolitik. Die Parteienlandschaft verändert sich dauerhaft, es sei völlig ungewiß, wer nach 1990 die Regierung stellt. Auch amerikanische Nato-Beamte fragen schon mal mit einem sarkastischen Unterton, ob ein Außenminister, dessen Partei in einem Jahr wahrscheinlich aus dem Parlament fliegen werde, nicht etwas dick auftragen würde.

Während Vertreter der Regierungskoalition in der Debatte im Aspen-Institut sich momentan vor allem darauf verlegen, den Konflikt herunterzuspielen, wird Genscher von der Opposition vehement unterstützt. Die Vormacht auf der anderen Seite des Atlantiks stehe doch völlig hilf- und konzeptionslos vor den Entwicklungen in Osteuropa. Bush habe keine Vorstellung einer europäischen Friedensordnung, die den kalten Krieg ablösen könnte. Schon deshalb bleibe den Bundesdeutschen gar nichts anderes übrig, als selbst die Initiative zu ergreifen. „Wir können doch einem welthistorischen Ereignis wie der Demokratisierung Osteuropas nicht einfach tatenlos zusehen“, so Joschka Fischer. Gefordert sei eine materielle Unterstützung und ein adäquates Entgegenkommen im militärischen Bereich. Selbst eingefleischte Anhänger der nuklearen Abschreckung zeigten sich von den Amerikanern irritiert und enttäuscht. Dauernd, so ein Bundeswehrvertreter, seien die USA hin- und hergeschwankt erst bei den Mittelstreckenraketen vom Unwillen gegen Verhandlungen ruckartig gleich ganz auf Null, dann Reagans Bannstrahl gegen die Atomwaffen an sich zur Begründung seiner SDI-Initiative und nun der neuerliche Schwenk ausgerechnet im Bereich der taktischen Kurzstreckenraketen, deren Auswirkung für die Deutschen fatal seien. Nichts wäre dümmer, als gerade diese Waffen zur Sollbruchstelle im Bündnis zu erklären. Doch auf diese Debatte wollten die Amerikaner sich nicht einlassen. Die Frage sei grundsätzlicherer Natur. Beide Seiten müßten realisieren, daß ein über 40 Jahre währendes Abhängigkeitsverhältnis nicht ohne psychologische Konsequenzen bleiben kann. Wir sind an einem Punkt, wo sich Trotz auf der einen und Verachtung auf der anderen Seite breitmache. Deshalb sei die jetzige Debatte auch notwendig und sollte nicht unter den Tisch gekehrt werden. Mit anderen Worten: Einen wirklichen Kompromiß in der Raketenfrage wird es nicht geben.

Jürgen Gottschlich