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Reform oder Revolution?

Ernest Mandel und Jürgen Kuczynski diskutieren auf der „Pfingst-Uni“ in Berlin die sowjetische Perestroika  ■  Von Walter Süß

Berlin (taz) - Ernest Mandel, trotzkistischer Wirtschaftstheoretiker aus Brüssel und einer der wichtigsten Köpfe in der linken Bewegung nach 1968, diskutierte auf der „Pfingst-Uni“ in West-Berlin mit Jürgen Kuczynski über die sowjetische Perestroika. Der 85jährige Kuczynski ist der große, alte Mann der DDR-Gesellschaftswissenschaften, ein persönlicher Freund Honeckers. Er hatte immer wieder Debatten in der DDR provoziert.

Das Interesse war groß. Hunderte waren im größten Hörsaal der Fachhochschule für Wirtschaft zusammengeströmt. Dieses Interesse war verständlich: Schließlich war es selbst schon Ausdruck einer neuen Entwicklung, daß sich ein DDR -Wissenschaftler mit dem führenden Trotzkisten zusammensetzt und mit ihm durchaus freundschaftlich streitet. Das war nicht nur auf die Vorliebe der beiden für Kriminalromane zurückzuführen.

Ihre Gemeinsamkeit lag tiefer: So altmodisch das heutzutage auch klingen mag, beide würden sich als „Leninisten“ bezeichnen. Ob sie dieses Prädikat auch dem unsichtbaren Dritten in ihrer Diskussion, Gorbatschow, verleihen würden, darüber waren sie sich nicht so ganz einig. Während Kuczynski Gorbatschows „revolutionären Pragmatismus“ als „Rückkehr zu Lenin“ lobte, kritisierte Mandel dessen „pseudorealpolitische“ Rhetorik. Er untermauerte das mit den außenpolitischen Verlautbarungen von Moskauer Reformpolitikern. Es sei ja richtig und unterstützenswert, die internationalen Beziehungen zu entmilitarisieren, aber dem Imperialismus deshalb gleich, wie das inzwischen sowjetische Reformtheoretiker täten, eine generell friedliche Entwicklung zu prognostizieren, sei einfach „Quatsch“.

Die Verdienste der Moskauer Reformer um den Abbau antikommunistischer Feindbilder im Westen seien gewaltig, aber wenn einzelne von ihnen behaupten, das 21.Jahrhundert werde zu einem Jahrhundert der „Klassenzusammenarbeit“, hört Mandels Verständnis auf.

Damit kann auch Kuczynski wenig anfangen, doch er hält esfür unvermeidlich, daß in einer offenen Debatte gelegentlich auch „Unsinn“ geredet wird. Außerdem sei er generell - mit Rosa Luxemburg - der Meinung, daß „intelligente Fehler viel wichtiger als tausend kleine Richtigkeiten“ sind. Daß es auch an diesem Punkt Differenzen gab, zeigte sich allerdings, als sie über die Folgen einer Krise im Kapitalismus stritten. Während Kuczynski davor warnte, daß sie in der Herrschaft alt-neuer Irrationalismen und letztlich dem Krieg münden könne, setzte Mandel noch immer darauf, daß - im Kapitalismus unvermeidliche - Krisen auch eine revolutionäre Wende nehmen können.

Differenzen gab es auch in der Beantwortung der Frage Haugs, ob die sowjetische Perestroika „Liberalisierung oder Revolution“ bedeute. Kuczynski argumentierte mit der Analogie zu den französischen Revolutionen des 19.Jahrhunderts. Erst sie hätten die Aufgabe von 1789 eingelöst. Es geht, so meint er, gegen „Erstarrung, Bürokratismus, gegen das Alte“, aber nicht gegen eine „neue Klasse“. Partei- und Staatsapparat seien nicht mit der Bürokratie zu identifizieren, es gebe dort gute Administratoren und schlechte Bürokraten. Solche Differenzierungen, wie sie auch für die sowjetische Debatte typisch seien, hält Mandel für verschleiernd. Aus seiner Sicht geht es um eine politische Revolution der Arbeiterklasse gegen die Bürokratie als gesellschaftliche Schicht.

Bei dieser Argumentation, vorgetragen im klassischen Stil Mandelscher Revolutionsrhetorik, mußten einige im Publikum, die sich zuvor über seine orthodox-leninistische Imperialismuskritik gefreut hatten, feststellen, daß sie da einen sehr unbequemen neuen Bündnispartner haben. Wie können die Wirtschaften in „sozialistischen“ Ländern effizienter und dynamischer gemacht werden? Die Planungsbürokratie kritisierten beide, aber Kuczynski fügte hinzu, vor allem müsse die „elende Gleichmacherei“ beseitigt werden, die den Arbeitern keinen individuellen Leistungsanreiz biete. Ein solches Herangehen hält Mandel für „technokratisch“, für „bürgerliche bzw. kleinbürgerliche Ideologie“ und für reformpolitisch verhängnisvoll. Seiner Meinung nach spielt die individuelle Bereicherung für die Arbeitsmotivation heutzutage keine Rolle mehr, weil die Übermacht der Technik in modernen Produktionsbetrieben gar keine entsprechenden individuellen Spielräume mehr lasse. Die Motivation sei nur durch Demokratisierung und kollektive materielle Anreize zu verbessern. Diese Sicht erschien Kuczynski wiederum von der betrieblichen Realität in den sozialistischen Ländern allzuweit entfernt. Tatsächlich handelt es sich hier um eine grundsätzliche Differenz: Ob die Perestroika nur dann gelingen kann, wenn sie sich auch gegen einen Großteil der Arbeiter richtet, dem höhere Leistungsbereitschaft abverlangen wird, oder ob sie gerade scheitern wird, wenn sich die Reformer auf einen solchen Konflikt einlassen.

Ein Mitschnitt der Diskussion soll am Donnerstag, den 18.Mai, um 23 Uhr 25 im III. Programm der Nordkette ausgestrahlt werden.

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