Mehr Gift in die Teekessel

Die Bundesregierung plant langfristige Ausnahmeregelungen für höhere Pestizidrückstände im Trinkwasser / Grenzwert soll bis zu 5000fach angehoben werden / Streit im Bundesgesundheitsamt  ■  Von Harald Schumann

Berlin (taz) - Mit großzügigen Ausnahmeregelungen wollen Gesundheitsministerin Ursula Lehr und Landwirtschaftsminister Ignaz Kiechle die ab Oktober gültigen Grenzwerte für Pestizidrückstände im Trinkwasser faktisch außer Kraft setzen. Dies geht aus Entwürfen für eine „Empfehlung des Bundesgesundheitsamtes (BGA) zum Vollzug der Trinkwasserverordnung“ hervor, die der taz vorliegen.

Demnach sollen bundesdeutsche Wasserwerke bis zu zehn Jahre lang auch dann noch Trinkwasser an ihre Kunden liefern dürfen, wenn es mit Agrargiften verschiedenster Art weit über den EG-weit gültigen Grenzwert von 0,5 Mikrogramm pro Liter (fünf Millionstel Gramm) verunreinigt ist. Zur „Aufrechterhaltung der Wasserversorgung“, so heißt es in dem Enwturf, könne die „vorübergehende Überschreitung der Grenzwerte toleriert werden“, weil „eine Schädigung der menschlichen Gesundheit auch dann nicht zu besorgen“ sei.

Die geplanten Ausnahmeregelungen werden notwendig, wenn - nach neunjähriger Verzögerung - am ersten Oktober auch in der Bundesrepublik die schon im Jahr 1980 beschlossene Trinkwasserrichtlinie der Europäischen Gemeinschaft in Kraft tritt. Sie sieht vor, daß im Wasser aus der Leitung nicht mehr als 0,1 Mikrogramm pro Liter eines Pestizidwirkstoffes enthalten sein dürfen; die Summe aller Pestizide soll 0,5 Mikrogramm nicht überschreiten.

Entgegen den früheren Behauptungen der Hersteller gelangen zahlreiche Agrargifte jedoch schon kurze Zeit nach der Anwendung auf den Äckern ins Grundwasser. Schon mehrere hundert Wasserwerke fanden über vierzig verschiedene Wirkstoffe in Konzentrationen von bis zu 1.000 Mikrogramm pro Liter in ihrem Rohstoff. Trotzdem blieben drei Jahre alle Maßnahmen gegen das drohende Pestizidfiasko in den Wasserwerken im Gerangel der Behörden stecken. „Die ganze Auseinandersetzung“'so ein BGA-Beamter, „kann man nur noch als grotesk bezeichnen.“

Ohne Ausnahmeregelungen wären nun zahlreiche Wasserwerke von der Schließung bedroht. „An der Sanierung des Grundwassers und der Eindämmung des Pestizidgebrauchs“, beklagt ein Mitarbeiter der zuständigen Abteilung des Gesundheitsministeriums, „hätte dann niemand mehr Interesse.“

Um dieses Dilemma abzuwenden, hatte die Trinkwasserkommission des Bundesgesundheitsamts im vergangenen Herbst vorgeschlagen, allen örtlichen Gesundheitsbehörden eine detaillierte Handlungsanleitung zu geben, wie sie in den Einzugsgebieten der betroffenen Wasserwerke ein Sanierungskonzept und Auflagen für die Landwirtschaft durchsetzen sollen. Die Richtwerte für vorübergehende Ausnahmeregelungen sollten nur im Einzelfall auf Anfrage festgelegt werden.

Doch die Publikation dieser ersten Empfehlung verhinderte im letzten Moment BGA-Präsident Großklaus auf Intervention des Leiters des BGA-eigenen Pettenkofer-Instituts, Professor Link.

Das Institut ist mit zuständig für die Zulassung von Pestiziden. Fortsetzung auf Seite 2

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Nun dringt die beamtete Chemie lobby im Landwirtschaftsministerium auf die Zulassung weitgehender Ausnahmeregelungen, indem - etwa bei Gemüse für jedes Agrargift spezifische Höchstgrenzen der „befristeten Überschreitung“ erlaubt werden, wie es in einem Entwurf vom vergangenen März heißt. Würden sie sich damit durchsetzen, dann wären die zulässigen Giftkonzentrationen im Trinkwasser bis zu 5000mal höher, als es die gültige Trinkwasserverordnung vorsieht. Als Kompromißvorschlag bot dagegen die BGA-Trinkwasserkommission pauschale Richtwerte an, wonach bis zu zehn Jahre lang die Summe aller Pestizidrückstände nicht mehr als 10 Mikrogramm, entsprechend dem 20fachen des EG-Werts, überschreiten sollte. Die Ausnahmegenehmigungen sollen strikt an Fortschritte bei der Eindämmung der Pestizidflut gekoppelt werden. Doch auch eine solche Regelung, meint Ingolf Spickschen, Pestizidexperte im Vorstand des Bunds Umwelt und Naturschutz (BUND), „ist unverantwortlich, das fordert ja erst recht dazu auf, einfach drauflos zu spritzen“. Genehmigt würde damit auch die Verteilung von zahlreichen Substanzen, die im Verdacht stehen, krebserregend zu sein. Die Behauptung, es bestehe keine Gesundheitsgefahr, so Spickschen, „ist eindeutig falsch“. Schon 0,1 Mikrogramm pro Liter entsprächen einer Trillion Molekülen einer solchen Substanz, jedes einzelne dieser Moleküle könne Krebs auslösen.