Berlin soll Totalverweigerer ausliefern

Ein anerkannter Kriegsdienstverweigerer brach nach neun Monaten seinen Erstazdienst ab und zog in die Viermächtestadt / Jetzt soll der wegen „Dienstflucht“ zu fünf Monaten Haft Verurteilte auf dem Wege der Amtshilfe in die BRD ausgeflogen werden  ■  Aus Berlin Ursel Sieber

Der prekäre Umgang mit Totalverweigerern steht in Berlin wieder auf der Tagesordnung, seit der in der Viermächtestadt lebende Totalverweigerer Gerhard Scherer eine Ladung zum Haftantritt in der BRD erhalten hat: Ab Mitte Juni soll er in Rottweil, einer Kleinstadt im Süden der BRD, eine Strafe von fünf Monaten verbüßen. Sein Fall ist kompliziert, jedoch typisch für einige Berliner Bürger, die in der Bundesrepublik wegen Wehrpflichtvergehen verurteilt werden in Prozessen, die sich zumeist über Jahre hinziehen.

Gerhard Scherer war bereits im Frühjahr 1985 als Kriegsdienstverweigerer anerkannt worden. Den Zivildienst in einem „Langzeitkrankenhaus“ brach er jedoch neun Monate später ab mit der Begründung, daß der Zivildienst eng mit der militärischen Planung verknüpft sei. Weil er in Berlin eine Stelle als Musiklehrer bekam, zog er im April 1987 in die Inselstadt mit dem besonderen Status um. Seitdem ist er Westberliner Bürger. Wegen Dienstflucht hat ihn das Landgericht Rottweil unterdessen zu fünf Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt.

Dieses Urteil sollte ursprünglich in Berlin vollstreckt werden. Doch die zuständige Haftanstalt bekam im letzten Moment kalte Füße: Als Gerhard Scherer zum Haftantritt erschien, schickte man ihn erst mal wieder nach Hause. Begründung: Wegen des besonderen Status der Stadt dürfe die Strafe in Berlin nicht vollstreckt werden.

Jetzt, über ein halbes Jahr später, hat Gerhard Scherer die Ladung zum Haftantritt in Rottweil bekommen. Sollte er dieser Ladung nicht folgen, wird die Rottweiler Behörde bei ihren Berliner Kollegen wohl einen Vollstreckungshaftbefehl beantragen. Vom früheren CDU-Senat war bekannt, daß in diesem Falle Amtshilfe geleistet wird und Gerhard Scherer nach Westdeutschland „Überführt“ werden sollte.

Eigentlich ist die Rechtslage eindeutig: Bürger von West -Berlin sind nicht wehrpflichtig, und diejenigen, die den Umzug nach Berlin noch vor ihrer Einberufung schaffen, können nicht mehr einberufen werden. Die Berliner Justiz darf in diesen Fällen auch keine Amtshilfe leisten.

Nur Totalverweigerer - Wehrpflichtige also, die nicht nur den Dienst bei der Bundeswehr, sondern auch den Zivildienst verweigern und von der bundesdeutschen Justiz in der Regel wegen Fahnenflucht zu einigen Monaten Gefängnis verurteilt werden - müssen jedoch damit rechnen, daß die Berliner Justizbehörden in die Amtshilfe einwilligen und die „Fahnenflüchtigen“ zum Haftantritt in die Bundesrepublik fliegen.

Darin aber sehen die Berliner Totalverweigerer einen Verstoß gegen den entmilitarisierten Status der Stadt. In einem offenen Brief, der auch von der Humanistischen Union und den Ärtzen gegen Atomkrieg unterschrieben wurde, haben sie die neue Justizsenatorin des rot-grünen Senats, Jutta Limbach (SPD), aufgefordert, die Entscheidung des alten Senats zurückzunehmen und dem entmilitarisierten Status der Stadt „tatsächlich gerecht zu werden“: Jutta Limbach soll die Amtshilfe durch Behörden in allen Wehrpflichtangelegenheiten für nicht zulässig erklären.

Die Amtshilfe im Falle des ehemaligen Totalverweigeres Gerhard Scherer würde bedeuten, daß de facto ein Berliner Bürger auf Geheiß des Senats der Wehrpflicht wieder „zugeführt“ würde. Die Humanistische Union und die Totalverweigerer gehen nämlich davon aus, daß die Militärbehörden Gerhard Scherer einen neuen Einberufungsbescheid zustellen, wenn er erst mal seine Haft in Westdeutschland absitzt: „Seine Inhaftierung in der Bundesrepublik Deutschland hätte automatisch eine neue Einberufung zur Folge“, heißt es in dem offenen Brief. Und: „Hier kollidieren das Wehrpflichtgesetz und der entmilitarisierte Status von Berlin.“

Die gängige Praxis der westdeutschen Militärbehörden ist tatsächlich, daß Totalverweigerer erneut einberufen werden, nachdem sie ihre Haftstrafe wegen Fahnen- oder Dienstflucht verbüßt haben, und so oft „mehrfachbestraft“ werden.

Justizsenatorin Limbach will sich jedoch auf diese Argumentation nicht einlassen und bei der Linie ihres Vorgängers bleiben. „Der Haftbefehl kann in Berlin vollstreckt werden, weil hier gegen ein Bundesgesetz verstoßen wurde und damit die Bindung Berlins an den Bund betroffen ist“, meinte Justizsprecher Christoffel.

Die Totalverweigerer hoffen nun daß die AL noch in ihrem Sinne Einfluß nimmt: Mindestens drei andere Totalverweigerer müssen andernfalls damit rechnen, daß sie durch die Amtshilfe der Berliner Polizei in ein Gefängnis in der Bundesrepublik gebracht werden und so erneut in die Mühle von Bundeswehr und Justiz gerieten.