Baltikum auf dem Weg in die Selbständigkeit

■ Litauen und Estland beschließen Gesetze über wirtschaftliche und politische Eigenständigkeit / Koordiniertes Vorgehen der baltischen Staaten / Moskaus Autonomiespielraum wurde wesentlich überschritten / Bald eigene Währungen im Baltikum?

Moskau/Berlin (ap/taz) - Die Parlamente der baltischen Republiken Estland und Litauen haben am Donnerstag mehrere Gesetze über die wirtschaftliche und politische Selbständigkeit beschlossen. Darüber hinaus verabschiedete der Oberste Sowjet Litauens mit großer Mehrheit ein Gesetz über die Souveränität. Damit überschreiten die beiden Republiken den von Moskau bislang gewährten Autonomiespielraum. Mit den Verfassungsänderungen beanspruchen Litauen und Estland die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über ihr Territorium, die natürlichen Rohstoffe, Wälder und Gewässer. Außerdem soll die gesamte Industrie, mit Ausnahme des Rüstungssektors, den örtlichen Behörden unterstellt werden. Hiermit haben sich die Parlamente über die Empfehlungen einer Moskauer Kommission unter Vorsitz des Politbürokandidaten Juri Masljukow hinweggesetzt, die den wirtschaftlichen Autonomierechten der 15 Sowjetrepubliken wesentlich engere Grenzen setzen. So soll die Kontrolle über den Energiesektor sowie die Rüstungs - und Schwerindustrie auch weiterhin in den Händen der Moskauer Bürokratie bleiben. Mit den Gesetzesänderungen zur politischen Eigenständigkeit zog Litauen mit dem estnischen Parlament gleich, das bereits im November letzten Jahres ein ähnliches Gesetz verabschiedet hatte. Zukünftig sollen nur noch diejenigen Allunionsgesetze Gültigkeit haben, die vom Obersten Sowjet der Republiken angenommen werden. Ein Sprecher des litauischen Außenministeriums erklärte, daß durch die Verfassungsänderung Unionsgesetze gestoppt oder für ungültig erklärt werden können. Demgegenüber war das entsprechend estnische Souveränitätsgesetz bereits Ende letzten Jahres von Moskau abgelehnt worden. Dessen ungeachtet sieht das estnische Parlament sein Vetorecht gegenüber Moskau weiter in Kraft. Allerdings gab es bislang noch keinen konkreten Konfliktfall, in dem sich das proklamierte Vetorecht hätte bewähren müssen.

Das litauische Parlament beriet auch über die Einführung einer eigenen Staatsbürgerschaft. Dementiert wurden jedoch Meldungen der sowjetischen Nachrichtenagentur 'TASS‘, nach denen ein entsprechendes Gesetz bereits verabschiedet worden sei. In beiden Parlamenten wird zudem über die Einführung einer eigenen Währung beraten.

Die gleichzeitige Verabschiedung erweiterter Autonomiegesetze in Wilna und Tallin deuten auf eine stärkere Koordinierung der Unabhängigkeitsbestrebungen in den baltischen Republiken hin. Auch in Lettland wird zur Zeit über vergleichbare Gesetzesvorhaben diskutiert. Nachdem die baltischen Republiken bei den Auseinandersetzungen um die Allunionsverfassung Ende letzten Jahres ihre Forderungen nicht durchsetzen konnten, zeigen die neuen Initiativen, daß sie auch weiterhin den Ausbau ihrer Rechte betreiben wollen. Auch wenn manche Forderungen, wie die Einführung eigener Währungen oder die volle Souveränität auch in außenpolitischen Fragen unrealistisch erscheinen, machen sie doch Sinn. Inwieweit die Autonomiebestrebungen Erfolg haben werden, hängt nicht zuletzt von der Haltung des neuen Obersten Sowjet ab, der Ende Mai erstmals zusammentreten wird.

eis