musica antiqua - selbstgefällig

■ Frans Brüggen begeistere in der Glocke mit seinem Abschlußkonzert der „pro musica antiqua '89“ / Selbstdarstellung im Programm an den Hörern vorbei

Es gibt Leute, die zur Zeit die Frage nach einer Modernisierung der atomaren Kurzstreckenraketen in Eurpopa beschäfigt; andere streiten um eine Verbesserung der Haftbedingungen für politische Gefangene in der BRD; wieder andere verfolgen mit Spannung die Tarifverhandlungen der ÖTV, bei denen bekanntlich auch die Löhne des Krankenpflege -Personals festgelegt werden. Auch die Kultur möchte Brisanz bieten.

Die „pro musica antiqua '89“ thematisierte sich dieses Jahr kontrovers: „Alte Musik - Kult oder Kultur?“ Das abschließende Konzert dieser Reihe am vergangenen Freitag spezifizierte seinen Gegenstand noch einmal in der Sorge um den Kammerton. Unter der Leitung von Frans Brüggen, einem „Veteranen“ der Alten Musik, spielte das Orchester des

XVIII. Jahrhunderts Werke von Beethoven, Henry Purchell und Jean-Philippe Rameau. Nun ist mithin die Tonhöhe des Kammertons „a'“, nach dem die Instrumente eingestimmt werden, für die Aufführungspraxis alter Musik nicht unbedeutend. Entgegen unserem heutigen Kammerton (440 Hz) war der Kammerton im 18. Jahrhundert wesentlich tiefer, jeweils nach Ländern variierend lag er um 390 Hz bis ca. 420 Hz, ab 1820 kletterte er dann immer höher. Ein tiefer Stimmton hat einen weicheren und fulminanteren Klang zur Folge.

Frans Brüggen demonstrierte dies an Beethovens VI. Sinfonie (415 Hz), deren erste zwei Sätze allerdings ein wenig matt gerieten. Hingegen im folgenden jene Klangexplosionen entfalteten, die schon Beethovens Zeitgenossen erschreckten und noch heute

Besucher der Glocke zu unsicherem Grinsen nötigen. Die anschließenden „Phantasien für Orchester“ (Purchell) sowie die Suite „Castor und Pollux“ (Rameau) waren so souverän und differenziert, wie man es von Spezialisten der Alten Musik erwarten darf.

Programmheft

für wen?

Im Rückblick auf die musica antiqua drängt sich eine Frage auf, die hartnäckig ihrer Beantwortung harrt: Für wen wurden die teuren Programmhefte gemacht? Für die Besucher? Sicher nicht, denn diese wünschen sich Informationen und keine 60seitige DIN-A4-Sammlung nach dem Motto: das Konzert ist alles, was der Fall ist. Punkt.

Ohne die Kenntnis der Traktate von Prätorius, Mattheson,

Quantz und anderen barocken Theoretikern, die von den Kontroversen um die Höhe des Kammertons berichten, stand man z.B. beim Brüggen-Konzert auf verlorenem Posten. Statt informativer Grundlagen bot die Hälfte des Programmheftes den Abdruck der Konzerte der „pro musica antiqua“ der vergangenen 30 Jahre - stolzer Nazißmus, an dem jede Null zum Anlaß wird, noch zu Lebzeiten seine avantgardistische Vorreiterrolle zur kulturellen Legende zu zimmern. „Heute sehen wir, wie jede beliebige Vergangenheit in geschichtliche Dimensionen gestemmt wird“, hat Ulrich Greiner jüngst diesen Stil gekennzeichnet. „pro musica antiqua '89“ drohte so selbstgefällig zur „Cool-Tour“ der Macher zu werden, zu routiniert an den Bedürfnissen der Hörer vorbei.

H. Schmidt