Die Pekinger besetzen ihre Stadt

■ Die Bevölkerung der Hauptstadt mißachtet den Ausnahmezustand und versperrt den Soldaten den Zutritt

Im chinesischen Staatsfernsehen wurde eine Anordnung verlesen, nach der es ausländischen und einheimischen Journalisten ab sofort verboten ist, über die Ereignisse in China zu berichten. Was die Übertragung von Fernsehfilmen betrifft, wurde das Verbot bereits duchgesetzt; was die Pressekorrespondenz betrifft, noch nicht:

Sonntag morgen, zehn Uhr: Ganz Peking ist besetzt, besetzt von der eigenen Bevölkerung. 24 Stunden nach Verkündung des Ausnahmezustands hat noch immer kein einziger Soldat den Tiananmen, den Platz des Himmlischen Friedens im Zentrum der Hauptstadt, erreicht. Die Bevölkerung steht geschlossen hinter den Studenten, viele Bürger halten jetzt bereits seit 40 Stunden die Blockadelinien aufrecht. Andere bringen dringend benötigte Lebensmittel und Wasser auf den Tiananmen. Die Demonstrationen im Stadtzentrum sind etwas abgeflaut, denn alle Kräfte werden in den Außenbezirken gebraucht. Solange die Armee nicht durchbricht, droht den Studenten auf dem Platz keine unmittelbare Gefahr. „Wenn wir noch zwei Tage durchhalten, muß die Regierung ihre Niederlage eingestehen. Der Ausnahmezustand hat nur noch mehr Menschen für uns mobilisiert“, freuen sich die demonstrierenden Schauspieler der Pekinger Opernschule. Feststimmung macht sich breit. „Wo bleiben denn die ausländischen Proteste? Warum machen eure Regierungen keinen Druck auf die Führung?“ werden die verbliebenen ausländischen Journalisten ständig gefragt.

Unter dem Eindruck der tagelangen spektakulären Massenbesetzung des Stadtzentrums, der Arbeiterstreiks und des Übergreifens der Proteste auf die Provinzen berief Deng Xiaoping am Freitag die zentrale Militärkommandatur ein, deren Vorsitzender er ist, und beschloß, die Proteste mit Hilfe der Armee niederzuschlagen. Bereits vor Tagen zusammengezogene Truppen in einer Stärke von 200.000 Mann aus Chengde, Datong und Handan erhielten noch in der Nacht zum Samstag den Befehl, in Peking einzumarschieren. Die seit April in Peking eingesetzten Eliteeinheiten des 38.Korps sind offenbar infolge der ständigen Kontakte mit Studenten und Bevölkerung nicht mehr einsatzfähig, viele Soldaten und Kommandeure weigern sich, gegen die Studenten vorzugehen. Die neuen Soldaten hingegen sind wochenlang von allen Nachrichten abgeschirmt worden und völlig desorientiert. Als die Nachricht von Truppenbewegungen durchsickerte, alarmierten am Samstag Motorradkuriere blitzschnell die Universitäten. Innerhalb weniger Stunden strömten 100.000 Studenten und mehrere hunderttausend Pekinger zu den Einfallstraßen und stoppten die Mannschaftswagen und Panzerfahrzeuge vor dem Stadtkern in den äußeren Bezirken. Alte Frauen warfen sich vor die Räder der Armeelaster, viele Studenten weinten. Arbeiter errichteten mit Betonklötzen Absperrungen, Lastwagenfahrer stellten ihre Lastzüge quer zur Straße, und Omnibusse verkeilten die letzten Lücken. Die Stromversorgung der U-Bahn wurde von den Beschäftigten sabotiert, so daß auch auf diesem Weg keine Invasion möglich war. „Auf dem Tiananmen sitzen unsere Söhne“, rief eine Mutter am Samstag den Soldaten entgegen, „ihr seid die Volksbefreiungsarmee und nicht die Volksunterdrückungsarmee.“ Empörung und Verzweiflung kennzeichneten die Stimmung in der Nacht. „Wie könnt ihr uns das antun, haben wir euch dafür großgezogen? Schämt ihr euch nicht, gegen uns Arbeiter und Studenten vorzugehen?“ riefen Arbeiter den sichtlich erschütterten Soldaten zu. Die ganze Nacht hielten die Pekinger an den „Verteidigungslinien“ aus, kein Soldat kam durch. Ab zehn Uhr herrschte schließlich über fast ganz Peking der Ausnahmezustand, den Li Peng verhängt hatte, um die „anarchistischen Zustände“ zu beenden und ein Übergreifen der Unruhen auf die Provinzen zu verhindern. Demonstrationen, Streiks, Versammlungen, öffentliche Reden, Flugblätter usw. sind ab sofort verboten. Parteimitglieder sind aufgefordert, vorbildlich gegen Demonstranten und „Störer“ einzuschreiten.

Obwohl offiziell noch nicht verlautbart, darf als sicher gelten, daß schon seit Mittwoch KP-Chef und Reformbefürworter Zhao Ziyang, der sich für weitreichende Zugeständnisse an die hungerstreikenden Studenten ausgesprochen hatte, seines Postens enthoben worden ist. Bei den Übertragungen der Konferenz der Spitzen von Partei und Staat tauchte Zhao „aus Krankheitsgründen“ nicht mehr auf, ein sicheres Indiz für seinen Abgang. Zhao hat damit das gleiche Schicksal wie seinen im April verstorbenen Vorgänger Hu Yaobang ereilt. Hu mußte im Januar 1987 gehen, weil er zu „weich“ gegen die studentischen Demonstrationen aufgetreten war. Für die Unterstützung Zhaos sammeln sich derzeit in der Partei überall Kräfte.

Trotz des Verbots nahmen am Samstag nachmittag Zehntausende von Pekingern an einer Demo im Stadtzentrum teil, um gegen den Ausnahmezustand zu protestieren. 200 Parteikader zogen mit und skandierten: „Wenn die Studenten unterdrückt werden, treten wir aus der Partei aus“ und: „Rettet China.“ Sprechchöre riefen Li Peng und Deng zum Rücktritt auf. Die beiden Führer haben in den letzten Wochen rapide an Ansehen in der Bevölkerung verloren. Mit der Entscheidung, die Proteste in alter Manier niederzuschlagen, haben sie das Vertrauen endgültig verspielt. Die Wandzeitungen der Unis sind voller Erklärungen von Dozenten und Studenten, die aus der KP oder der Kommunistischen Jugend austreten. Im ganzen Stadtgebiet verkehrten am Samstag keine Busse mehr. Ab zwölf Uhr traten zahlreiche Betriebe in den Streik. Ein junger Prolet erklärt: „Viele Betriebe haben nach Beginn der Frühschicht die Tore geschlossen. Ich und viele Kollegen mußten über die Werksmauer klettern, um zur Demo zu kommen.“

Auch in der Nacht zum Sonntag hielten Hunderttausende auf dem Tiananmen aus. Hunderttausende brachen zu den Blockadepositionen auf, um auch nachts einen Durchbruch der Militärs zu verhindern. Gegen sechs Uhr früh kam es zu einem schweren Zwischenfall, als Soldaten versuchten, die Blockade von Studenten und über hundert Stahlarbeitern gewaltsam zu brechen. 52 Blockierer erlitten Verletzungen, drei Studentinnen wurden mit Knochenbrüchen ins Krankenhaus gebracht. Die Studenten wollten derartige Konflikte um jeden Preis vermeiden. „Die einzige Chance besteht darin, die Soldaten darüber aufzuklären, welche schmutzige Arbeit sie machen sollen. Sie sind nicht unsere Feinde. Ihr dürft bei Rangeleien auf keinen Fall zurückschlagen“, forderte das studentische Komitee der Beida, der größten Pekinger Universität, die Blockierer auf. Die Überzeugungsarbeit zeigte auch Wirkung. Viele Soldaten erkannten, daß sie betrogen wurden: „Wir sind gekommen, um euch vor den Chaoten zu retten. Man hat uns getäuscht.“ Andere zerrissen vor Wut Exemplare der parteiamtlichen 'Volkszeitung‘.

Auf dem Tiananmen trafen die Studenten am Sonntag Vorkehrungen gegen einen Tränengaseinsatz. Die Unis werden von den Studenten mit starken Wachen vor den Toren geschützt, da man nach der Ausrufung des Ausnahmezustands Razzien und die Verhaftung der Studentenführer befürchtet.

Spenden werden gesammelt, um mit selbstgedruckten Zeitungen und Flugblättern die Nachrichtenblockade zu durchbrechen. Die offiziellen Zeitungen erscheinen schon seit zwei Tagen nicht mehr. Ein Rundfunkjournalist erklärte an der Beida: „Die Nachricht, daß die Armee trotz Ausnahmezustands nicht eindringen kann, ist zensiert worden. Wir dürfen nicht mal mehr Tatsachen bringen.“

Thomas Reichenbach, Peking