Der Stand der Dinge

Peter Handke sitzt mit leicht gekrümmtem Rücken auf einem Barhocker, deutlich um entspannte Haltung bemüht, und blinzelt ins grelle Scheinwerferlicht. Er wird als einziges Jury-Mitglied während der ganzen Veranstaltung schweigen. Eine Neuerung im Zeremoniell, die auf den Jury-Präsidenten Wim Wenders selbst zurückgeht: die „intelligente und integre Jury“, so Wenders‘ Eigenlob, befindet sich bei der Preisverleihung auf der Bühne des großen Saals in Cannes. Wir sollten „die Entscheidung, die wir zusammen getroffen haben, auch zusammen repräsentieren und möglichen Zuschauerreaktionen offen und mutig ins Aug‘ blicken“.

Aber anders als in den vergangenen Jahren, wo es teilweise heftig zuging, bleiben die Proteste diesmal aus. Offensichtlich hat die Jury populäre Entscheidungen getroffen.

Daß die Goldene Palme an Steven Soderberghs Sex, Lies and Videotapes ging, ist zugleich eine mutige und doch ein bißchen überflüssige Geste. Mutig, weil Sex, Lies and Videotapes - ein extrem intelligenter, genauer und melancholischer Blick auf das Beziehungsgespinst zwischen zwei Männern und zwei Frauen um 30 - ein Erstlingsfilm ist. Überflüssig, weil Steven Soderbergh, der erst 26 Jahre alt ist, nun endgültig als Wunderkind dasteht. Jetzt hat er nicht nur auf Anhieb unabhängige Produzenten gefunden, die ihm nach Lektüre seines Drehbuchs fünf oder sechs Millionen Dollar hinlegten, ist auf Anhieb in den Wettbewerb des wichtigsten Festivals gewählt worden, sondern wird auch gleich noch mit dessen Hauptpreis und mit dem Preis für den besten Hauptdarsteller bedacht.

Fragt sich, ob Soderbergh diese Förderung überhaupt noch nötig hat. Hollywood hat ihn schon längst bemerkt: Seinen nächsten Film, The last ship, eine „Abenteuer -Liebesgeschichte in der Zukunft“, produziert von Sidney Pollack, wird er bei Universal machen.

Das tatsächlich überaus wahre Problem dieses Wettbewerbs war, daß es noch mehr so radikal-persönliche, kantige und offen widersprüchliche Filme gab.

Spike Lee hatte mehr zu kämpfen gehabt, bevor er seinen ersten Film She's gotta have it verwirklichen konnte, der hier vor drei Jahren in der „Quinzaine“ lief. Sein neuer Film, Do the right thing, der verzweifelte und komische Rap über den alltäglichen Rassismus, ist völlig zu Unrecht leer ausgegangen, ebenso Sweetie, der erste Film der Neuseeländerin Jane Campion. Jim Jarmuschs Mystery Train hat immerhin den ominösen Preis „für den besten künstlerischen Beitrag“ bekommen, Emir Kusturicas Zeit der Zigeuner den Preis für die beste Inszenierung.

Störend im „Palmares“ des 42. Festival International du Film ist vor allem der „Große Preis der Jury“, der als Reverenz an den Publikumsgeschmack ex aequo Bertrand Bliers prätentiösem Trop belle pour toi und Giuseppe Tornatores sentimentalem Nuovo cinema paradiso zugesprochen wurde. Bliers Film läuft schon mit großem Erfolg in den französischen Kinos, Tornatores Abgesang auf Kino in Italien wird im Fernsehen hohe Einschaltquoten erreichen. Vielleicht wollte die Jury - in der mit Kieslowski und Wenders zwei prominente Verfechter der europäischen Identität in Film, Funk und Fernsehen vertreten waren - einfach nicht einsehen, daß die originellsten Filme des Festivals diesmal nicht aus Europa, sondern dummerweise vor allem aus Amerika kamen. Den Mut zu einer insgesamt unausgewogenen und unpopulären Entscheidung, den man ihr zutrauen durfte, hatte sie nicht.

Thierry Chervel