Vom Hocker gerissen

■ Gutgemeinter, aber sturzlangweiliger Dialogversuch mit der Kreuzberger Jugend trieb dieselbe aus dem Saal des „CHIP“ / Viele altbekannte Forderungen

Kreuzberger Dialog vor vielen leeren Stühlen: Die sozialdemokratische HDB (Progressive Volkseinheit der Türkei) lud am Freitag abend zur Podiumsdiskussion unter dem Motto „Gegen ein sich prügelndes Kreuzberg“ ins Jugendkulturzentrum „CHIP“. Von den 126 anwesenden Stühlen konnten allerdings nur genau 46 einen Be-Sitzer finden - die Themenpalette von REP-Politik über den „revolutionären“ 1. Mai bis zum Mord an Ufuk Sahin im Märkischen Viertel lockte offensichtlich nur wenige der ausdrücklich angesprochenen Jugendlichen an. Auch auf der anderen Seite des Parketts blieb ein Stuhl leer: Die CDU verzichtete. Der Diskussionsleiter Merik Ünel konnte so begrüßen: Hermann Minz und Joachim Günther (SPD-BVV-Fraktion), Alse Becker (AL -BVV-Fraktion) und Hakan Erden (HDB).

Alse Becker eröffnete den Reigen und forderte das kommunale Wahlrecht für Ausländer. Außerdem forderte sie, die Republikaner zu verbieten. Hermann Minz forderte daraufhin, die gesellschaftliche Situation nicht zu vergessen. Hakan Erden forderte, die Jugendlichen zu aktivieren. Eine Teilnehmerin forderte, die Forderungen zu konkretisieren. Die Leere-Stuhl-Fraktion konnte ihren Stimmanteil von Anfangs 80 auf 90 Prozent erhöhen.

Sozialdemokratisch-pragmatisch forderte schließlich Joachim Günther das Wort: „Lösungen? Das ist irgendein Zauberwort.“ Ein Sozialarbeiter mehr könne halt auch nicht viel ändern. Hakan Erden bemühte in seiner Replik Erich Fried, und die gerade hinzugekommenen Jugendlichen (sechs) rülpsten kurz und schlurften wieder in den sonnenbeschienenen Innenhof. Daraufhin forderte Hakan Erden wieder das kommunale Wahlrecht. Eine Teilnehmerin forderte, die dereinst geforderte Forderung nach Konkretisierung der Forderung wieder aufzugreifen. Aktueller Stuhl-Leerstand: 100. Hakan Erden brachte endlich die Liga für Menschenrechte und kaiserwilhelminische Wahlparagraphen ins Spiel. Alse Becker diskutierte schweigend mit ihrem Gewissen und bereute bitterlichst, für den ursprünglich eingeladenen Klaus Croissant hierher gestapft zu sein. 103 leere Stühle. SPD -Günther ergriff nun verschmitzt das Wort und brachte die Diskussion auf die Höhe der Zeit: „Und da fragt ihr euch, wieso die Jugendlichen nicht kommen? Da kann ich ja nur grölen!“ Daraufhin fragte er sich, wieso er überhaupt gekommen sei.

Bevor mich jemand zum Stühlestapeln verdammen konnte, gelang es mir, durch eine Hintertür zu fliehen.

Thomas Langhoff