„Immer mehr drängen auf Reformen“

Horst Laatz, DDR-Forscher an der Bochumer Ruhr-Universität, war Wissenschaftlicher Arbeitsleiter bei der Ostberliner Akademie der Wissenschaften und 20 Jahre SED-Mitglied  ■ I N T E R V I E W

Zum vierten Mal seit Gründung der DDR sollen im kommenden September die Parteidokumente der SED-Mitglieder ausgetauscht werden. Während seiner Rede vor Zweiten Sekretären der SED-Bezirks- und Kreisleitungen erklärte Politbüro-Mitglied Horst Dohlus jetzt, daß mit dieser Umtauschaktion „keine Parteireinigung oder Parteiüberprüfung“, sprich Säuberung, verbunden sei. Solche Vorstellungen, hieß es in seiner gestern im 'Neuen Deutschland‘ abgedruckten Rede, seien „vollkommen abwegig“. Allerdings werde man sich von jenen trennen, „die nicht bereit sind, die Verantwortung, die ein Mitglied der SED vor unserer Partei und dem Volk trägt, zu erfüllen“.

taz: SED-Politbüromitglied Dohlus geht auf Nummer sicher und versichert bereits jetzt, die Umtauschaktion der Parteidokumente sei keine Säuberungsaktion. Wie sehen Sie das als ehemaliges SED-Mitglied?

Horst Laatz: Das ist natürlich ein Widerspruch in sich selbst. Wenn die Partei nicht reinigen will, braucht sie auch keine Dokumente umzutauschen. Sehr wohl hat diese Aktion die Aufgabe, die SED von unliebsamen Parteimitgliedern zu säubern. Andererseits will die SED vor dem nächsten Parteitag 1990 die Linie der Parteiführung durchsetzen. Das bereits jetzt mit aller Vehemenz zu tun und wie Dohlus sagte, die „unerschütterliche Treue“ zur SED -Politik einzuklagen, dazu hat die SED-Führung nach meiner Beobachtung auch allen Anlaß. Denn ihre Linie, die am „demokratischen Zentralismus“ und an der Einheitlichkeit festhält, ist in der Mitgliedschaft keineswegs unumstritten. Anzeichen, daß die SED und insbesondere ihre Führung in der Krise stecken, gibt es eine ganze Menge. Immer mehr Leute wollen sich von der Vormundschaft der SED-Führung emanzipieren. Ausgedrückt hat sich das in zahlreichen Austritten. Dieses Unbehagen ist zur Zeit wohl die stärkste Bewegung in der DDR-Bevölkerung, die auch die Parteibasis nicht unverschont läßt. In vielen Betrieben gibt es schon keinen Produktionsarbeiter mehr, der Mitglied der SED ist.

Welche Bedeutung hatten die früheren Umtauschaktionen?

Mit solchen Umtauschaktionen hat man zwar auch viele passive Mitglieder abgestoßen, in erster Linie aber die kritischen Köpfe. Die Gespräche, die mit jedem Genossen anläßlich der Umtauschaktionen geführt werden, haben zugleich eine Ventilfunktion. Die einfachen Mitglieder können da Wünsche und Erwartungen ausdrücken. Auch wenn Dohlus in seiner Rede diese Gespräche besonders hervorgehoben hat, so sind sie eigentlich eine überflüssige Maßnahme. Aus den monatlichen Berichten, die die Parteiführung aus jeder ihrer Organisationen erhält, weiß man sehr genau über die Stimmung unter den Mitgliedern Bescheid.

Heute tauscht die SED aus Bedrängnis die Dokumente um?

Sicher ist es eine Bedrängnis, weil immer mehr Mitglieder auf Reformen in der Partei drängen. Gleichzeitig aber will man klarmachen: Leute, das ist nicht unsere Linie, macht euch keine Illusionen, daß irgend etwas in Richtung der sowjetischen KPdSU läuft. Ich glaube aber, daß die jetzt vorgenommene Einschwörung auf die Parteilinie eine Illusion ist. Es wird wohl eher so sein, daß der sogenannte Prozeß der Selbstreinigung sich verstärkt, daß noch mehr Mitglieder austreten.

Interview: Birgit Meding