„Die Leute fangen gerade erst an nachzudenken“

Siu Wing Fai, 21 Jahre, Generalsekretär des Hongkonger Studentenverbandes (HKFS), über die Bewegung in Peking, über Geldhilfen, die Bedeutung des Telefons, Ratschläge und die Besorgnis in der ehemaligen Kronkolonie / „Viele wissen nach den vielen Jahren britischer Kolonialherrschaft ja gar nicht, was Freiheit und Demokratie sind“  ■ I N T E R V I E W

Am vergangenen Wochenende demonstrierten auch in Hongkong in Solidarität mit den Pekinger Studenten über eine Million Menschen für „Demokratie und Freiheit“. Die Aktion ging auf eine Initiative des Hongkonger Studentenverbandes „Hongkong Federation of Students“ zurück. Der Generalsekretär des Verbands, Siu Wing Fai, ist ein begeisterter, aber auch kritischer Beobachter der chinesischen Studentenbewegung. Seine Organisation schickt Vertreter in den Pekinger Studentenrat und nahm damit direkt an den Ereignissen teil.

taz: Eine Mehrheit der Pekinger Studenten hat sich am Montag entschieden, die Besetzung des Tiannanmen-Platzes abzubrechen. Wie beurteilst du die Lage?

Siu Wing Fai: Selbst wenn die Studenten jetzt abziehen, heißt das nicht, daß ihre Bewegung gestorben ist. Ich denke sogar, daß es für die Pekinger Studenten vorläufig wichtiger ist, ihre eigene unabhängige Organisation zu festigen. Darauf müssen sie sich heute besinnen. Denn es muß eine Organisation geben, die in der Lage ist, die Interessen aller Studenten zu vertreten, wenn der Kampf für Demokratie langfristig weitergehen soll.

Du meinst, daß es diese Organisation bisher nicht gibt. Wo liegt deine Kritik?

Es gab bisher in Peking nur einen sehr locker strukturierten Verband. Am Anfang waren da ja nur zwei, drei Studenten, die ein paar gute Ideen und etwas Charisma hatten. Sie ergriffen die Initiative. Um sie herum bildete sich dann eine sogenannte Kerngruppe, die sich aus Vertretern der neun Universitäten Pekings zusammensetzte. Natürlich war das eine informelle, illegale Vereinigung. Sie hat zwar zunächst gut funktioniert, aber sie erwies sich als unfähig, Konflikte auf demokratische Art zu lösen. Einer der Sprecher der Bewegung mußte sofort zurücktreten, als er nicht mehr für die Fortsetzung des Hungerstreiks stimmte. Es ist heute unbedingt notwendig, daß sich die Studenten in Peking eine Struktur schaffen, innerhalb der sie über verschiedene Meinungen diskutieren und Entscheidungen demokratisch fällen können.

Es konnte der Eindruck entstehen, daß die Bewegung sehr stark auf Peking konzentriert war. Lag darin nicht eine Schwäche?

Ganz sicherlich. Der Zentralismus war die entscheidende Schwäche der Bewegung. Der Grund liegt vor allem im Mangel an Kommunikationsmitteln. China ist ein großes Land, und die Partei hat zudem versucht, den Austausch innerhalb der Bewegung zwischen Peking und der Provinz auf allen Ebenen zu kontrollieren. Wir in Hongkong haben versucht, ausreichend Geld zu beschaffen, damit man in Peking zumindest die wichtigsten Geräte, wie zum Beispiel, Telefone besorgen konnte. Dabei geht es wirklich um viel. Bisher funktionierte die Kommunikation mit den anderen Städten wie zum Beispiel Schanghai sehr schlecht. Gerade in diesen Orten aber ist es heute wichtig, daß die Studenten - vor allem in der Organisationsform - nachziehen. Sonst besteht die Gefahr, daß die ganze Studentenbewegung untergeht, wenn jetzt in Peking die Enttäuschung zu groß ist und die Initiative dort vorläufig erstickt ist.

Wie beurteilst du die gewaltfreie Taktik der Bewegung?

Sie war unvermeidlich, schon weil viele Chinesen in der Politik konservativ denken. Wäre Gewalt mit im Spiel gewesen, hätten viele sofort vermutet, die Studenten wollten die alte Ordnung umwerfen. Unterstützung aus der Bevölkerung hätte es dann kaum gegeben. Später hat dann die gewaltfreie Taktik die Armee in Schwierigkeiten gebracht. Wichtig ist der historische Hintergrund. Seit der 4.-Mai-Bewegung von 1919 haben chinesische Studentenbewegungen eine gewaltfreie Tradition. Die Gewaltfreiheit ist eine Art natürlicher Konsens der Bewegung.

Welche Verbindung unterhält der Hongkonger Studentenverband zu Peking?

Seit einem Monat schicken wir unsere Delegierten ins Pekinger Studentenkomitee. Das erlaubt uns, direkt an den Diskussionen in Peking teilzunehmen. Vor allem aber erfahren wir von den materiellen Sorgen der Bewegung, was für die Leute in Peking nicht ohne Interesse ist. Wir haben hier natürlich andere finanzielle Mittel.

Hat dich euer Erfolg hier in Hongkong überrascht?

Das ist eine ganz neue Entwicklung. Die Leute fangen gerade erst an zu überlegen, was mit Hongkong passiert, wenn das konservative China hier ab 1997 regieren wird. Dabei ist es noch einfach, mehr Freiheit und Demokratie zu fordern. Viele wissen ja nach so vielen Jahren englischer Kolonialherrschaft überhaupt nicht, was diese Wörter bedeuten können.

Wie lautet heute deine Empfehlung an die Pekinger Studenten?

Sie sollten sich nicht so sehr um die internen Konflikte in Partei und Regierung scheren. Sie sollten ihre Forderungen weiterentwickeln und ausformulieren, unabhängig davon, wer gerade regiert. Auch wenn sie jetzt erst einmal enttäuscht sind, daß der Reformer Zhao Ziyang abgelöst ist. Ihre Aktion wäre heute nicht weniger wichtig, wenn Zhao noch die Macht besäße. (

Interview: Chikako Yamamoto, Hongkong)