HARUN FAROCKI

 ■  Ein Motiv der Erlösung

Ich las davon, daß die Musikindustrie gerade die gutverkäuflichen Stücke zunehmend schlechter absetzt. Ist nämlich ein Stück in den Rang der zwanzig bis dreißig Bestverkauften gestiegen, so wird es von den zunehmenden Radiostationen in deren zunehmenden Sendungen, die die bestverkäuflichen Stücke spielen, stets wieder und so oft gespielt, daß der Antrieb entfällt, das Stück für sich auf einem Tonträger zu erwerben. Damit haben wir es mit einer Reklame zu tun, die den Absatz einer Ware nicht hebt, sondern senkt.

Nehmen wir an, der Musikindustrie läge ein Bauprinzip zugrunde wie dem Propellerflugzeug: macht man den Rotor größer und schneller, so nimmt auch der Luftwiderstand zu, was den Flugapparat bremst. Der Treibstoffverbrauch geht gegen unendlich ohne weitere Steigerung der Fluggeschwindigkeit.

Noch bevor er an einen absoluten Grenzwert stößt, muß ein Produzent bedenken, wie er seine Produktion vor allzu großem Erfolg schützen kann, da dieser doch die Absatzkurve senkt. Zu diesem Zweck müßte er über eine gegenwirksame Reklame verfügen, die den Absatzanstieg dosiert bremsen kann.

Künftig muß es zwei Reklamen geben. Neben der schon gegebenen, für die wie in keiner Kunstgeschichte um Bilddetails gestritten wird und für die jedes Wort mehr gewogen wird als vor Gericht, muß eine zweite alle Mühe, Intelligenz, Blödigkeit, Selbstverliebtheit, Witzigkeit und Angeberei aufwenden, ihr entgegenzuwirken. Wie einmal jeder Vogel zur Ehre Gottes singen sollte, soll heute jede Farbe, jeder Geruch, Geschmack, Laut und jede Empfindung den Warenabsatz steigern und nun auch begrenzen.

Schon im letzten Jahrhundert erkannte der Chemiekonzern Dupont, daß es besser ist, einen Markt nicht ganz, sondern zu sechzig Prozent zu beherrschen und die Produktionsspitze der unterlegenen Konkurrenz zuzuweisen.

Bislang verließ ein jedes Musikstück den Markt durch den Hinterausgang, indem es sich schlecht verkaufte. Nunmehr ist Aussicht, daß es sich an der Spitze abspielt. Damit ist dem Druck der Überproduktion eine Öffnung gestoßen, der Durchzug, den dies verschafft, kann auch die Nachricht von der zunehmenden Schlechtverkäuflichkeit des Gutverkäuflichen ins Öffentliche verwirbelt haben.

Wenn die Musikindustrie etwas erleidet, was sie an anderer Stelle nicht überkompensieren kann, so deshalb, weil sie ihre Töne an Träger gebunden hat zum Verkauf im Geschäft. Die Gerätentwicklung hat die Bindung gelockert: Fast jeder hat ein Cassettenkopiergerät und ein paar Radios, wenn diese digital empfangen, ist jeder Beiklang des Trägers gelöscht und der Begriff der Kopie gegenstandslos. Der Kunde, der sich keinen bespielten Tonträger kauft, zahlt der Musikindustrie eine Abgabe, wenn er Geräte und Leercassetten kauft. Die Leercassette ist eine Möglichkeitsform und hier sind Einkünfte aus der Leere und Stille.

Hängt der Metzger eine Wurst ins Fenster, so ist sie gleich zweimal da: einmal in ihrem Wurstsein und zum zweiten als Zeichen für Wurst. Im Fall der Musik, die im Radio gespielt wird und für die gleiche Musik werben soll, ist die Nähe von Zeichen und Gegenstand, Reklame und Ware noch größer. Der bespielte Tonträger kann nur noch erworben werden wollen, damit man den Zeitpunkt des Abspiels selbst bestimmen kann („während der Nachrichten“, „wenn der Papst stirbt“, „vielleicht nach dem Krieg“), während bei der Wurst Anschauung und Verzehr auseinanderfallen.

Hätte ich die Musikindustrie, ist würde die zwanzig, dreißig bestverkäuflichen Titel so lange und so oft spielen, bis der Hörer sie nicht mehr hören kann und kauft, damit sie aus dem Markt sind. Damit hätten wir ein Motiv der Erlösung.

Der Filmemacher Harun Farocki produziert seit den sechziger Jahren, ist bekannt durch seine Essayfilme „Etwas wird sichtbar“, „Wie man sieht“, „Bilder der Welt und Inschrift des Krieges“, er arbeitet(e) auch fürs Sandmännchen und die Sesamstraße.