„Wir befinden uns in einer Periode des Abwartens“

Haidar Abu Shafi, Vorsitzender des palästinensischen Roten Halbmonds in Gaza, zur Situation in den besetzten Gebieten  ■ I N T E R V I E W

Haidar Abu Shafi, der Vorsitzende des Palästinensischen Roten Halbmonds, war 1964 Mitglied des ersten Exilparlaments der PalästinenserInnen. Ende der siebziger Jahre gehörte er dem nationalen Führungskomitee der PLO in den besetzten Gebieten an. Der Rote Halbmond ist eine zur PLO gehörende Gesellschaft, die für die sozialmedizinische Versorgung des palästinensischen Volks in den besetzten Gebieten und in der Diaspora zuständig ist.

taz: Hat sich die Situation in den besetzten Gebieten in den vergangenen Monaten zugespitzt?

Haidar Abu Shafi: Israel hat in der Intifada von Anfang an einen Verstoß gegen Sicherheit und Ordnung gesehen, der beendet und niedergeschlagen werden muß. Damit ist Israel aber dem Kern des Problems ausgewichen. Das Treffen des PNC (des Palästinensischen Nationalrats, das Exilparlament, d.Red.) im November und die Annahme der gemäßigten Resolutionen haben die israelische Regierung unter Druck gesetzt. Man hätte erwartet, daß die Israelis diese Resolutionen begrüßen. Die Brutalität nahm jedoch eher zu, sei es bei Festnahmen, dem Töten von Palästinensern, dem Verhängen der Ausgangssperren oder dem Zerstören von Häusern. Das alles sind Zeichen für eine weitere Eskalation der Politik der eisernen Faust.

Gibt es auch eine Eskalation von palästinensischer Seite? Im letzten Kommunique der Vereinten Führung des Aufstands war zu lesen, für jeden toten Palästinenser solle ein israelischer Soldat oder Siedler sterben.

Über dieses Kommunique wird viel spekuliert. Die Authentizität des Schreibens wird offenbar bezweifelt. Auch von der PLO-Zentrale in Tunis ist es zurückgewiesen worden. Sollte es aber authentisch sein, so handelt es sich um eine unbedachte Sache von seiten der Vereinten Führung. Jedenfalls glaube ich nicht, daß es in die Praxis umgesetzt wird. Es würde nur den Israelis in die Hände spielen. Ich sehe uns jetzt in einer Situation des Abwartens. Die Haltung Westeuropas seit den PNC-Resolutionen war ein vielversprechendes Zeichen. Wenn wir natürlich in eine Sackgasse geraten, müssen wir uns sehr genau überlegen, was als nächstes getan werden muß. Aber selbst dann glaube ich nicht, daß umgehend der bewaffnete Kampf aufgenommen wird, zumindest nicht in den besetzten Gebieten.

Können Sie sich vorstellen, daß Wahlen unter der Besatzung, wie sie der Schamir-Plan vorsieht, ein Schritt im Rahmen einer Übergangsregelung sein könnten?

Wir können uns daran nicht beteiligen, denn das würde bedeuten, daß wir uns in einen Prozeß begeben, der nirgendwo hinführt. Wir würden uns an jeder Art von Zwischenlösung, auch an Wahlen, beteiligen, die ein Ziel ins Auge faßt, sonst nicht. Bei der Schamir-Initiative handelt es sich nur um einen Trick, Zeit zu gewinnen, Fakten zu schaffen und weiterhin brutal gegen die Bevölkerung der besetzten Gebiete vorzugehen. Schamir sagt, in der zweiten Phase des Prozesses solle es Verhandlungen über eine endgültige Lösung geben; bei anderer Gelegenheit sagt er dann, Israel werde sich keinen Zentimeter zurückziehen. Was bleibt dann von dieser angeblichen Friedensinitiative übrig?

Wie beurteilen Sie die Aktivitäten der islamisch -fundamentalistischen Bewegung „Hamas“ in Gaza?

Es gab bereits seit den 70er Jahren Gruppen moslemischer Fundamentalisten. Vor dem Aufstand haben sie sich nicht mit der palästinensischen Nationalbewegung identifiziert, sondern sich hauptsächlich um die Verbreitung der islamischen Ideologie gekümmert. Daraus entwickelte sich eine Konfliktsituation, die sich vor allem an den Universitäten entlud. Positiv ist, daß die Fundamentalisten sich seit der Intifada mit dem Aufstand identifiziert haben. PLO und „Hamas“, sehen sich in der Lage, Differenzen zu vertagen. Die Israelis haben Hamas anfangs gewähren lassen in der Hoffnung, einen Konflikt zwischen Nationalisten und Fundamentalisten zu schüren. Die neue Entwicklung im Zuge der Intifada gefällt den Israelis gar nicht, und sie haben kürzlich 250 Hamas-Leute festgenommen.

Es wird oft gesagt, Hamas habe im Zuge der Intifada an Stärke gewonnen. Wie sehen Sie das?

Ich glaube nicht, daß sie wesentlich dazugewonnen haben. Es gab Hamas schon vorher, und es ist nichts Spektakuläres geschehen. Wie steht Hamas zur Zweistaatenlösung, die von der PLO angestrebt wird?

Hamas lehnt den israelischen Staat ab und strebt die völlige Befreiung des palästinensischen Territoriums an. Natürlich wird es unterschiedliche Standpukte geben, letztlich wird es dann um die Meinung der Mehrheit der Palästinenser gehen. Auch die Resolutionen des letzten Nationalrats wurden bekanntlich mit Mehrheiten, keinesfalls einstimmig angenommen.

Sie sprachen eingangs von einer Phase des Abwartens. Wie könnten die nächsten Schritte aussehen?

Wenn es zu einer einheitlichen Position der EG zur Einberufung einer internationalen Nahost-Friedenskonferenz kommt, wäre es möglich, den Friedensprozeß voranzutreiben das besonders im Licht der sowjetischen Position, die sehr ausgewogen und positiv ist und sich demonstrativ für eine Mäßigung der palästinensischen Positionen einsetzt, den Konflikt mit friedlichen Mitteln zu regeln. Ein gemeinsames Vorgehen der Sowjetunion und der EG in dieser Sache könnte auch die USA bewegen, stärker aus sich herauszugehen. Ein internationaler Konsens könnte Israel dazu drängen, seine unnachgiebige Haltung aufzugeben. Die Welt muß Israel klarmachen, daß es mit dem, was es momentan will, nicht durchkommt.

Interview: Beate Seel, z.Z. in den besetzten Gebieten