Ungewollte Interessenkoalition

■ Arbeitgeber und Beschäftigte wollen am gesicherten Feierabend festhalten

KOMMENTAR

Man darf sich von den Streikbildern vor den Kaufhäusern nicht täuschen lassen. Zwar werden die Beschäftigten des Einzelhandels bei häufig unzumutbaren Arbeitsbedingungen miserabel bezahlt, haben also allen Grund zum Arbeitskampf. Aber in jenem Punkt, der öffentlich die größte Rolle spielt, liegen die Interessen der Tarifparteien gar nicht so weit auseinander: dem Ladenschluß. Für die Frauen an den Kassen und Verkaufsständen geht es ganz einfach um das Recht auf einen gesicherten Feierabend, um die Möglichkeit eines Stückchens Leben nach der Arbeit. Aber auch die Kaufhauskonzerne und großen Einzelhandelsketten sehen einer Ausdehnung der Ladenöffnungszeiten eher mit Grausen entgegen und haben sich deshalb vielfach in regionalen Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften auf einen Ladenschluß von 18.30 Uhr geeinigt.

Dieses Bündnis der Tarifparteien gegen die Interessen der Kunden entspringt nüchternem, betriebswirtschaftlichem Kalkül. Erweiterte Öffnungszeiten lohnen sich für die Einzelhändler nur dann, wenn die höheren Aufwendungen für den Betrieb (Heizung, Beleuchtung, mehr Personal usw.) durch Umsatzsteigerungen aufgefangen werden. Das aber ist kaum zu erwarten - schließlich hängen die Konsumausgaben der Bevölkerung nicht von der Länge der Ladenöffnungszeiten, sondern in erster Linie von ihrer Einkommenssituation ab.

Es ist leicht voraussehbar, wie die Kaufhausmanager auf verlängerte oder gar ganz freigegebene Ladenöffnungszeiten reagieren würden: Sie würden in den „Normalzeiten“ tagsüber Vollzeitbeschäftigte abbauen und die zusätzlichen Öffnungszeiten mit flexiblen, ungesicherten Teilzeitkräften bestreiten. Die Beschäftigten wären noch mehr als bisher dem Flexibilisierungsdiktat ihrer Vorgesetzten ausgesetzt, müßten häufiger zu ungünstigen Zeiten arbeiten. Dies sind keine abstrakten Kategorien: Kann sich die alleinerziehende Mutter gegen Arbeit in den späten Nachmittags- und Abendstunden wehren? Kann eine Frau verlangen, von der Spät in die Frühschicht überzuwechseln, weil sie ein Kind bekommt und dann auf die Öffnungszeiten der Kindergärten angewiesen ist? Gibt es irgendeine gesetzliche Handhabe gegen die über Fluktuation betriebene, schleichende Umwandlung von Vollzeit - in ungesicherte, rechtlose, dem Diktat der Arbeitgeber völlig ausgelieferte Teilzeitarbeitsverhältnisse? Die Antwort auf all diese Fragen lautet zur Zeit „Nein“.

Schlechte Voraussetzungen also für das wünschenswerte Eingehen auf das Interesse der Kunden an unreglementiertem Einkauf, das eben nicht verächtlich als Yuppie-Konsum -Ideologie abgetan werden kann. Die Freiheit des Konsums ist nun beileibe nicht die ganze Freiheit. Aber dennoch haftet dem kartellartigen Zusammenschluß von Gewerkschafts- und Arbeitgeberinteressen gegen die Konsumentenbedürfnisse ein Hauch von Obrigkeit und engstirniger Reglementierung an, der zum Widerspruch herausfordert. Die abendliche Ödnis der bundesdeutschen Innenstädte, die Verhinderung einer offeneren, vielfältigeren Alltagskultur müßte nicht sein. Nichts kann auch aus der Sicht der Beschäftigten gegen den Einkauf bis in die Nacht hinein sprechen, wenn sie ihre individuellen Arbeitszeitinteressen gegen das Management durchsetzen können, wenn die Ausbreitung ungesicherter Arbeitsverhältnisse gesetzlich verhindert wird. Die derzeitige Regierungskoalition betreibt genau das Gegenteil und verbaut damit der Gewerkschaft den Ausweg aus der Enge ihrer Arbeitnehmerposition hin zu einer offenen Interessenkoalition mit den Konsumenten.

Martin Kempe