ERBARMUNGSLOS ECHT

■ Eine Schulstunde mit Dr.Margarete vom „Experiment Phoenix“

Der Schuldirektor kassiert vor dem Eintritt ins Klassenzimmer das Schulgeld und drückt einem ein Schulheft in die Hand, auf dem er den Vornamen vermerkt. Im Heft hat er den Platz auf dem Sitzplan angekreuzt. Und so findet man sich nach vielen Jahren unversehens mit kichernden Mädels und verlegenen Jungs in einer Klasse hockend wieder, allerdings auf Stühlen, die wesentlich bequemer sind als die von damals.

Geschäftsmäßig freundlich lächelnd betritt Dr.Margarete (Irene Husung) den Raum und kontrolliert als erstes die Sitzordnung. Wer sich eigenmächtig woanders niedergelassen hat, wird gnadenlos umgesetzt. Und wehe, es macht jemand Anstalten, sich der Lehrkraft zu widersetzen: die oder der kann ihren Zorn kennenlernen. Darin erinnert Dr.Margarete lebhaft an meine ehemalige Physik- und Mathematiklehrerin, die jede Disziplinlosigkeit und jede Insubordination mit schärfsten Mitteln ahndete und wegen ihrer Humorlosigkeit in der ganzen Schule gefürchtet war. Auch Dr.Margarete will ihren Zöglingen mit den allerbesten Vorsätzen Ordnung, Gerechtigkeit, Liebe und eigenes Denken einbleuen, sie fertigmachen fürs Leben draußen. Nur hat sie es mit einem hartnäckigeren und nicht so unbedarften Schülermaterial zu tun und muß zu weit eindringlicheren Maßnahmen greifen, um ihre Autorität zu wahren. Die Pädagogin ist hin und hergerissen zwischen dem Lehrplan und dem, was sie draußen sieht und was ihr die Schülerinnen in die Klasse tragen. Andauernd schwappt das Leben in ihren Unterricht hinein: „Wißt ihr was das ist: Teilen? Wenn einer mehr haben will als der andere.“ Sie zieht ein rosa Brett hinter der Wandtafel hervor, in dem lauter kleine Schlitze sind. „Hier, 40 Löcher und zehn Kassetten“, blaue Pimmelchen an einer Schnur, „das erste Loch schnappt sich sechs,“, sie stopft die Pimmelchen in den Schlitz, „das zweite holt sich die restlichen vier, und der Rest kann sehen, wie er klarkommt das ist Mathematik!“ Und wenn sie dann in die verständnislosen Gesichter des Schülermaterials blickt, dann kann es passieren, daß sie außer sich gerät: „Ihr begreift nichts! Gar nichts!“ Und eine unflätige Schimpfkanonade bis zur Preisklasse von „Schert euch zu dem Hurenbock, der euch gezeugt hat!“ ergießt sich über die verschüchterten Zuhörerinnen, die früher sicher mit feineren Methoden traktiert worden sind.

„Das kann doch nicht wahr sein“, tönt es zaghaft aus den hinteren Reihen. Doch, doch. Roberto Athayde, der das Stück schrieb, ist in Rio de Janeiro geboren und wird Verhältnisse in minderbemittelten Wohngegenden vor Augen gehabt haben, wo man mit freundlichen Ratschlägen und gutgemeinten Konzepten nicht viel ausrichten kann. Irene Husung hatte unter der Regie von Arno Drechsel, dem Schuldirektor, den Kraftakt der doppelten Konzentration zu bestehen auf ihre Rolle und auf das Publikum, das sie erbarmungslos anspielte - und zwar so wirkungsvoll, daß sich zum Schluß lange Zeit niemand traute, Beifall zu klatschen.

„Heute kein Nachsitzen!“ Am Ende war sie dann heiter und gelöst - genau wie meine Lehrerin, als wir uns auf der Abschlußfete gemeinsam besoffen haben: Wir waren frei und sie auch.

Michael Vahlsing

Auftritt Dona Margarida, gespielt vom „Experiment Phoenix“, donnerstags bis samstags in der Pumpe, Lützowstr. 42, 1-30, noch bis zum 10.Juni. Unterrichtsbeginn: 20.30 Uhr.