Ist die deutsche Sprache noch zu retten?

■ Der Beitrag ist die stark gekürzte Fassung eines Vortrages, den der Leiter der Dudenredaktion vor Mitarbeitern gehalten hat

Günter Drosdowski

Das Verhältnis zu meiner Großmutter war von dem Tage an gestört, an dem ich sie zu meiner Mutter sagen hörte: „Dein Kind ist aber furchtbar blöde!“ Diese Äußerung ging mir lange nach und vergällte mir die Ferien. Als ich erfuhr, meine Großmutter hätte mit „blöde“ nicht eine Schwäche meines Verstandes gemeint, sondern meine Schüchternheit, war es zu spät: Großmutter war dahingegangen. Ich konnte ihr nicht mehr sagen, daß ich alles andere als ein schüchternes Kind war, sondern mich lediglich um das Begrüßungsritual herumzudrücken versucht hatte.

Die Einsicht, daß sich die Bedeutung von Wörtern ändert, Sprache nicht immer und überall gleich ist und sich unaufhörlich wandelt, gewann ich schon früh. Zu dieser Erkenntnis gesellte sich das Wissen, daß dieser Wandel auch als zielgerichtet aufgefaßt werden kann, man also nicht nur vor Veränderungen stehe, sondern vor einer Entwicklung.

Die deutsche Sprache hat sich vor allem in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts rasch und tiefgreifend gewandelt. Erstaunlich ist nun für mich, daß es außer Linguisten kaum jemanden gibt, der diese Entwicklung positiv beurteilt. Die meisten Menschen - darf man demoskopischen Zahlen vertrauen, sind es fast 84 Prozent - glauben, daß das Neue in der Sprache schlechter als das Alte, das Überkommene sei. Sie befürchten, daß es mit unserer Sprache - und in Verbindung damit auch mit unserem Denken - unaufhaltsam bergab gehe. Nach dem Gesetz der Ökonomie

Daran, daß unsere Sprache viel von ihrer klanglichen Schönheit und ihrem Reichtum an Deklinations- und Konjugationsformen eingebüßt hat, daran kann es gar keinen Zweifel geben. Aber Sprache folgt nicht den Gesetzen des Wohlklangs oder der Schönheit, sie ist ein Sozialgebilde, eine gesellschaftliche Größe, deren Hauptfunktion es ist, die Verständigung in einer Gemeinschaft zu gewährleisten. Sie folgt dem Gesetz der Ökonomie, mit einem Minimum an artikulatorischem und geistigem Aufwand ein Maximum an kommunikativer Wirkung zu erzielen, sie gleicht daher aus, vereinfacht und beseitigt Überflüssiges. Soll ich das als Sprachverfall beklagen?

Schrieb Goethe noch Die Leiden des jungen Werthers, so verzeichnen Literaturgeschichten heute nur mehr Die Leiden des jungen Werther („des“ macht ja den Genitiv deutlich). Aber nicht nur bei Namen wird auf die Beugung verzichtet, der Abbau der Kasusformen schreitet generell im Geschwindschritt voran, wie jeder feststellen kann, der eine Zeitung liest: „in der zweiten Hälfte des April“ (nicht: „des Aprils“) heißt es da, „Attentat auf den Präsident“ (nicht „den Präsidenten“) melden die Schlagzeilen, und im Zusammenhang mit dem politischen Skandal wird von einem „geheimnisvollen Informant“ (nicht: „Informanten“) berichtet.

Manches davon mutet ungewohnt oder falsch an, an vieles aber haben wir uns bereits gewöhnt, und die Kennzeichnung des Dativs mit -e - etwa „im Betriebe“, „auf dem Hemde“ oder „mit neuem Mute“ - wirkt bereits gehoben oder archaisch. Auch beim Verb springt die Tendenz zur Beseitigung von Redundanzen, zur Vereinfachung und Systematisierung förmlich ins Auge: Der Bestand an starken Verben mit unregelmäßiger Flexion verringert sich immer mehr. Nicht „sog“ und „gesogen“, sondern „saugte“ und „gesaugt“ heißt es heute gewöhnlich, wir sagen „Im Volk gärte (nicht: „gor“) es“ oder „Die Sportjournalisten kürten (nicht: „koren“) die Tennisspielerin Steffi Graf zur Sportlerin des Jahres“ „sott, glomm, troff“ statt „siedete, glimmte, triefte“ kommen uns heute bereits gespreizt oder altertümlich vor.

In der gesprochenen Sprache wird der e/i-Wechsel beim Imperativ nach und nach aufgegeben. Immer häufiger kann man „Helf mir mal!“ oder „Sprech etwas lauter!“ statt „Hilf mir mal!“ oder „Sprich etwas lauter!“ hören. Unaufhaltsamer Einheitskonjunktiv

Auch in anderen Bereichen lassen sich die gleichen Entwicklungstendenzen beobachten, etwa im System des Konjunktivs. Hier geht die Entwicklung unaufhaltsam zu einem mit „würde“ gebildeten Einheitskonjunktiv und zur Ersetzung der Möglichkeitsformen durch die Wirklichkeitsformen hin zu sehr klingen Sätze wie „O, hülfe er mir doch!“ oder „Wenn er den Fluß durchschwömme, wäre er in Sicherheit“ nach Grimms Hausmärchen oder altem Gesangbuch, zu groß ist offenkundig die Angst, falsche Formen zu verwenden. Lauten die richtigen Formen „hülfe“ oder „hälfe“, „beföhle“ oder „befähle“, „gewänne“ oder „gewönne“, „stände“ oder „stünde“? „Alle glaubten, daß der Fisch tot ist“ oder “... tot sei“ oder aber “...tot wäre“, „Sie hätte das nicht behauptet, wenn sie ihn besser kennte“ oder „besser kännte“? Wie unproblematisch ist da doch die würde-Umschreibung, wie verlockend die Flucht in die vertrauten Wirklichkeitsformen: „O, würde er mir doch helfen!“, „Wenn er den Fluß durchschwimmen würde, wäre er in Sicherheit“, „Sie hätte das nicht behauptet, wenn sie ihn besser kennen würde.“

Selbst Journalisten, Nachrichtensprecher, Kommentatoren in Funk und Fernsehen verzichten immer häufiger darauf, den Konjunktiv als Signal für die Grenze zwischen Nachrichten und Kommentar zu verwenden. Sie melden: „Der Bundeskanzler sagte, daß ein Alleingang nicht in Frage kommt“ oder „Der Finanzminister erklärte, daß der Haushalt gesichert ist“ und geben damit den Äußerungen persönlicher Meinung den Anstrich von Tatsachenverkündungen.

Wenn die Argumente der Propheten des Sprachuntergangs - wie ich es sehe - beim grammatischen Bau unserer Sprache manchmal recht fragwürdig sind oder überhaupt nicht greifen, treffen sie dann vielleicht auf den Wortschatz zu? Ich werfe wieder einen Blick in die Zeitungen und stoße auf Komposita wie „Asylantenzustrom, Abschiebehaft, Grenzrichter, Enthüllungsjournalismus, Robbensterben, Leihmutter, Retortenbaby, Ozonloch, Abgassonderuntersuchung“ und „Antiblockiersystem“, ich finde Bildungen wie „bezuschussen, verklappen, verunklaren, verkehrsberuhigt“ und „kostendämpfend“, und im Anzeigenteil lese ich von „kentersicheren Booten, knitterarmen Geweben, drehfreudigen Motoren, spurtreuen Schiern“ und „hautfreundlicher Seife“. Alle diese Wörter sind absolut korrekt nach den Regeln der deutschen Sprache gebildet, und ich kann beim besten Willen nicht einsehen, warum „Ellbogengesellschaft“, „Richtgeschwindigkeit“ oder „hautfreundlich“ unschöne oder gedankenlose Bildungen sein sollen. Wörter statt Sätze

Das hervorstechendste Merkmal der deutschen Sprache ist ihre Kompositionsfreudigkeit. Sie ermöglicht, da echte Neuschöpfungen - wie etwa „Schnulze“, das auch noch auf einem Versprecher beruhen soll - ganz selten sind, den Ausbau des Wortschatzes, sie erlaubt inhaltliche Nuancierungen oder semantische Abstufungen - etwa mit „schadstofffrei“ und „schadstoffarm“. Sie sorgt außerdem für schnelle Information, denn Komposita sind ja Komprimierungen aus Fügungen oder ganzen Sätzen. So wird zum Beispiel die Fügung „Hotels, die Kindern gegenüber freundlich eingestellt sind“ zu „kinderfreundliche Hotels“ verdichtet.

Und auf noch etwas möchte ich hinweisen: Nicht alles, was gebildet wird, soll fester Bestandteil des Wortschatzes unserer Sprache werden, ist für die Ewigkeit gedacht, sondern ist nur für eine bestimmte Kommunikationssituation bestimmt. Wenn Nord- und Ostsee nicht mehr verseucht sind, wenn ein Gau bei Kernkraftwerken ausgeschlossen ist und Kälber nicht mehr mit Östrogen behandelt werden, dann werden auch Wörter wie „Robbensterben, Killeralgen, Strahlenmolke“ und „Chemiekalbfleisch“ ganz schnell in der Versenkung verschwinden. Wer von uns kennt schon alle die Bildungen der Dichter des 18. und 19. Jahrhunderts wie „mondbeglänzt“, „sternbesät“ oder „tränensatt“?

In der Tat hat der Wortschatz unserer Sprache im 20. Jahrhundert eine gewaltige Differenzierung und Ausweitung erfahren, was aber völlig natürlich ist, denn der Wortschatz spiegelt den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt, die kulturelle Entwicklung und alle politischen und gesellschaftlichen Neuerungen wider. Kam zu Beginn der Neuzeit ein Bauer in einem Alpental oder ein Holzfäller im Schwarzwald mit etwa 800 Wörtern aus, so verfügen Kinder heute bereits ein Jahr vor der Einschulung im Durchschnitt über 5.000 bis 6.000 Wörter, und der Wortschatz eines erwachsenen Durchschnittssprechers umfaßt heute etwa 14.000 bis 16.000 Wörter. Ich kann diese Entwicklung nur begrüßen und möchte auf den erweiterten Sprachbesitz und auf die unverwüstliche Produktivität unserer Sprache, die es uns ermöglicht, die Welt um uns sprachlich zu erfassen und uns darüber zu verständigen, einen Lobgesang, aber nicht ein Klagelied anstimmen. Ärger über Fremdwörter

Wenn man heute Menschen fragt, warum sie sich Sorgen um die Sprache machen, Angst vor einem Sprachverfall haben, dann wird am lautesten über den ausufernden Fremdwortgebrauch und die zunehmende Überfremdung der deutschen Sprache geklagt. Diese Klagen sind nun allerdings nicht uneingeschränkt berechtigt, da viele Menschen nicht zwischen Fremdwörtern und Fachausdrücken unterscheiden - etwa zwischen „cool, mokant, eruieren, powern, Exponat, Machismo“ einerseits und „Bypass“ (Medizin), „Floating“ (Wirtschaft), „Curriculum“ (Pädagogik) oder „Postmoderne“ (Architektur) andererseits.

Tatsache aber ist auch, daß nun schon seit mehreren Jahrzehnten eine riesige Welle von Fremdwörtern anglo -amerikanischer Herkunft über uns hinwegbrandet und der übermäßige Gebrauch von Anglizismen und Amerikanismen die Verständigung erheblich beeinträchtigt. Im 'Spiegel‘ lese ich, daß die Verhandlungen „gecancelt“ (nicht: „abgesagt“) worden seien und daß „Mobster“ (nicht: „Bandenmitglieder“) den Arbeitsfrieden an den Docks gewährleisteten, die 'Hör zu‘ schreibt, es würde wenig Zeit für das „Relaxing“ (nicht: „Entspannung“) bleiben, und in einer Fernsehsendung über Alpinismus wird behauptet, daß die Berge auch nicht mehr „clean“ (nicht „sauber, frei von Abfall“) seien.

Vor allem im Bereich der inneren Entlehnung haben die Nachahmungen und Übernahmen ein gewaltiges Ausmaß erreicht: Politiker sprechen von „vitalen Interessen“ (nach „vital interests“ statt von „lebenswichtigen Interessen“), im Büro sagt man: „Ich rufe Sie zurück“ (nach: „I call you back“ statt „Ich rufe Sie wieder an“), Journalisten schreiben „in 1988“ (nach „in 1988“ statt „im Jahre 1988“ oder nur „1988“), und ein Fernsehmoderator macht seine Absage gar mit: „Haben Sie einen netten Abend“ (nach „Have a nice evening“ statt „Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend“).

Sind die Deutschen noch zu retten, die sowenig sprachbewußt sind, die unterwürfig anglo-amerikanische Sprachgewohnheiten übernehmen und wie die Papageien alles nachplappern? Eine Sprache kann nicht verfallen - das ist ein wissenschaftliches Faktum, das auch für die deutsche Sprache gilt. Wohl aber können unsere sprachlichen Fähigkeiten verfallen, kann sich unsere Einstellung zu unserer Sprache negativ ändern und der Umgang mit unserer Sprache verkommen

-und in dieser Hinsicht sind nun in der Tat laute Klagen zu erheben: Politiker verschleißen die Sprache mit geschmeidiger Gechwätzigkeit. Sie ölen ihren Redefluß mit Schmierformeln wie: „Ich würde meinen“, „Wenn man so will“ oder „Ich gehe davon aus, daß...“, lassen mit gewichtiger Miene Worthülsen und Phrasen ihrem Mund entquellen und versuchen, mit sprachlichen Mitteln Tatbestände zu verschleiern und Meinungen zu manipulieren, indem sie von „Nachrüstung“, „Entsorgungsparks“ und „Sozialpartnerschaft“ sprechen. Wider dem Fachjargon

Fachleute überfluten die Allgemeinheit mit Fachausdrücken und ihrem Jargon. Sie ignorieren ihre Pflicht, sich auch dem Laien verständlich zu machen. Ebenso notwendig wie eine naturwissenschaftliche und technologische Aufklärung der Allgemeinheit ist meiner Meinung nach heute eine sprachliche Aufklärung der Techniker, Ingenieure und Naturwissenschaftler. Fachleute müssen lernen, Probleme ihres Fachs auch dem Nichtfachmann klarzumachen, Gefahren der Forschung neuer Technologien für den Menschen und seine Umwelt verständlich darzustellen, weil nur so Verunsicherungen und Ängste in der Bevölkerung abgebaut werden können - etwa im Zusammenhang mit der Genforschung oder der Nutzung der Atomenergie.

Auch Juristen und Verwaltungsangestellte bedürfen dringend sprachlicher Schulung. Sie sollten, wenn sie sich an den Bürger wenden, in der Lage sein, Rechtsausdrücke angemessen zu erklären, die hohe Begrifflichkeit der Gesetzessprache zu mildern und den schwerverständlichen Nominalstil der Verwaltungssprache umzusetzen, damit die Verständigung zwischen Staat und Bürger nicht verkommt.

Reporter, Moderatoren und Showmaster wetteifern miteinander, ihr - zudem meist miserables - Schul- oder Touristenenglisch unter Beweis zu stellen, versuchen, mit englischen Brocken ihre Sendungen herauszuputzen. Noch immer verzichten Lehrer darauf, bei den Schülern das Verständnis für die Funktionen der Hochsprache zu wecken und sprachliche Normen zu vermitteln, sie möchten Sprachrichtigkeit durch Beliebigkeit ersetzen. Immer mehr Wissenschaftler geben ihre Loyalität gegenüber der deutschen Sprache auf. Nicht nur Chemiker und andere Naturwissenschaftler, sondern auch Geisteswissenschaftler wandern - meist aus Imponiergehabe oder um höhere Zitierquoten zu erreichen - in großen Scharen ins Englische aus.

Ich breche das Sündenregister an dieser Stelle ab. Einen besseren, weniger gedankenlosen und verantwortungsvolleren Umgang, so meine ich, hat unsere Sprache schon verdient. Etwas mehr Stolz auf die Sprache und mehr Sprachbewußtheit wie sie bei unseren französischen Nachbarn selbstverständlich sind -, das wünsche ich mir auch bei uns.