Absoluter Sieg für Solidarnosc

Die Parlamentswahlen in Polen haben der Regierung Jaruzelski eine schwere Schlappe beschert  ■  Aus Stettin Klaus Bachmann

Damit hat selbst Solidarnosc nicht gerechnet: Nach ersten Hochrechnungen in den Wahlbezirken der großen polnischen Städte zeichnete sich gestern eine unerwartet hohe Niederlage für die polnische Führung ab. Obwohl offizielle Ergebnisse frühestens gegen Montag abend erwartet wurden, scheint klar, daß alle Sejm- und SenatskandidatInnen der Arbeitergewerkschaft gar nicht erst zum zweiten Wahlgang am 18.Juni antreten müssen, da sie jetzt schon die erforderlichen 50 Prozent erhalten haben. Meist bekamen sie zwischen 70 und 80 Prozent der Stimmen. Die Wahlbeteiligung hatte mit 62,11 Prozent sehr viel niedriger gelegen als gemeldet.

Der landesweite Siegeszug der Solidarnosc bedeutet, daß sich die frei gewählten 100 Senatssitze vollständig aus Mitgliedern oder Sympathisanten der Solidarnosc zusammensetzen, die vom Bürgerkomitee aufgestellt wurden. Im Sejm wurden der Opposition allerdings nur 35 Prozent von insgesamt 460 Mandaten zugebilligt. Noch bis zum gestrigen Nachmittag war kein einziger Kandidat der 35köpfigen, aus Partei- und Regierungsprominenz zusammengesetzten Landesliste bekannt, der die 50-Prozent-Hürde geschafft hätte. Darüber ist man in der Opposition offenbar geteilter Freude. Das Scheitern dieser KandidatInnen, unter ihnen auch ReformbefürworterInnen, könnte die Fortsetzung auf Seite 6

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GegnerInnen des Reformkurses stärken. Noch unmittelbar vor den Wahlen hatte Lech Walesa im Fernsehen dafür geworben, die Reformkandidaten nicht zu streichen. Einzig parteilose KandidatInnen dieser Liste und eventuell noch Premier Rakowski haben eine Chance, die notwendigen 50 Prozent zu überschreiten. In Breslau, Danzig, Lublin und Warschau liegt der prozentuale Schnitt bei vernichtenden 30 bis 37 Prozent. Die WählerInnen haben offenbar die KandidatInnen der Landesliste und der Liste für die reservierten Sejm-Plätze erbarmungslos gestrichen.

Durch die Bank sind die absoluten Stimmenzahlen selbst der Bestplazierten auf den Koalitionslisten weit unter den absoluten Ergebnissen der Opposition. In vielen Fällen werden die Koalitionskandidaten zum Sejm in die zweite Runde müssen. Selbst der revlativ populäre Kulturminister Krawczuk hat es in seiner Heimatstadt Krakau nur auf elf Prozent gebracht, und der als Reformkommunist geltende Krakauer Soziologe Prof. Hyronim Kubiak ist sogar auf der Parteiliste nur auf Platz zwei gelandet. In Beuthen im oberschlesischen Kohlerevier gewann der Theoretiker der Opposition Adam Michnik den „Bruderkrieg“ gegen den Gründer der ersten freien Gewerkschaften in Polen, Kazimierz

Switon, mit rund 70 gegen fünf Prozent. Im nordostpolnischen Suwalki an der Grenze zur UdSSR konnte Bronislaw Geremek nach Angaben der Wahllokale zwischen 75 und 90 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen. Der dortige Oppositionskandidat für den Senat, Filmregisseur Andrzej Wajda, erhielt 65 bis 85 Prozent, sein Rivale General Tadeusz Szacilo, Chef der politischen Abteilung der Armee, kam knapp auf ein Zehntel dieses Ergebnisses. Mit 66,6 Prozent der Stimmen schaffte Bürgerrechtler Jacek Kuron in Warschau den Sprung ins Abgeordnetenhaus. Und in Danzig, mit einer Wahlbeteiligung von 44,2 Prozent weit unter dem Landesdurchschnitt, erhielten die beiden engen Freunde Walesas, Jacek Merkel und Bogdan Lis, 87,3 und 77,4 Prozent der Stimmen.

Doch auch linke Solidarnosc-Gegner setzten sich nicht durch: Die KandidatInnen der Walesa-Opposition, die in Stettin zwar unter dem Banner von Solidarnosc, aber außerhalb des Bürgerkomitees kandidierten, wurden ebenso abgeschlagen wie der einzige Stettiner Kandidat der radikalen „Konföderation Unabhängiges Polen“. Noch niederschmetternder für die Führung sind die Ergebnisse aus den Auslandswahlbezirken. Im Konsulat von Toronto haben 438 Wähler für den Solidarnosc-Kandidaten Adrzej Lapicki gestimmt. Sein Gegenkandidat, Exregierungssprecher Jerzy Urban, erhielt ganze zwei Stimmen.