Quälendes Warten

 ■  Aus Peking Th.Reichenbach

Das quälende Warten auf Nachrichten über den Ausgang der Konfrontation zwischen rivalisierenden Armee-Einheiten lastet schwerer auf den Pekingern als die Furcht vor einer blutigen Entscheidungsschlacht. Dienstag abend versetzte eine Lautsprecherdurchsage eines gerade vom Stadtzentrum zurückgekehrten Studenten die Peking-Universität und die mithörende Bevölkerung in Euphorie: Die Truppen der 27.Armee, die das Massaker am Tiananmen-Platz verübt haben, seien von Einheiten der 38.Armee bereits im Zentrum eingekesselt und würden unter Druck gesetzt, vom Tiananmen abzuziehen.

Nach der Durchsage bricht grenzenloser Jubel aus, denn ein Sieg des 38.Korps über die Hardlinerverbände könnte den Weg zu einer neuen Regierung freimachen. „Hängt Yang Shangkun“, schreien Studenten aus den Fenstern der Wohnheime, „auf zum Kampf, Rache für unsere Toten.“

Immer wieder prügeln die dort stationierten Soldaten der 27.Armee wahllos auf Personen ein, die in die Kategorie „Studenten“, „Aufrührer“ oder „Konterrevolutionäre“ passen. Bei der geringsten verdächtigen Bewegung wird sofort geschossen. Mit Soldaten anderer Einheiten sind dagegen Diskussionen möglich, die Bevölkerung versucht sie in Gesprächen an ihrem Gewissen zu packen. Ansonsten aber hat sich die Bevölkerung fast völlig von den Straßen zurückgezogen, besonders in den Abendstunden wirken die Außenbezirke wie ausgestorben. Da die Läden geschlossen sind, versorgt sich die Bevölkerung über die Kantinen ihrer Einheiten oder durch fliegende Gemüsehändler.

Die Unis sind inzwischen fast leer. Nach wochenlangen Aktionen sind die Studenten nach Hause gefahren. Die Gründe sind vielfältig: Nachdem reihum plötzlich überall gute Bekannte und Zimmergenossen auf der Opferliste des Armeemassakers standen, war der Schock groß. Inzwischen ist es in Peking zu gefährlich. Andere fahren nach Hause, weil sich die Eltern zu Tode sorgen oder weil auf absehbare Zeit ohnehin nicht an Studium und Examen zu denken ist. Die Unis haben daher ihre Funktion als Entscheidungs- und Informationszentren verloren. Die Lautsprecheranlage an der Peking-Universität blieb gestern erstmals seit Mitte April stumm.

Die Radiogruppe hat sich aufgelöst. Das studentische Komitee ist abgetaucht und unauffindbar. Es gibt keine neuen Wandzeitungen und Flugblätter mehr. Die Druckwerkstatt ist verlassen, nur noch Berge von Abfallpapier zeugen von den täglichen Produktionen unter Zeitdruck. Außer den Diskussionen kleiner Gruppen herrscht auf dem Campus eine seltsame Stille. Wer kann, verläßt die Stadt. Am Bahnhof warten Zehntausende, obwohl keine Züge mehr fahren. Ein Run auf die Banken hat eingesetzt, Hunderte von Bürgern heben ihre Ersparnisse ab.

Die totale Nachrichtensperre schlägt voll durch: Was in anderen Städten wie Schanghai, Tianjin oder Wuhan an Protestaktionen gegen das Pekinger Blutbad passiert, erfährt man nur noch über die gestörten Sender der BBC und „Voice of America“.