: „Imagawas Aids-Studie ist sehr aufregend“
US-Untersuchung über „schlummernde“ Infektionen beschäftigt die Experten / Virologe des Bundesgesundheitsamts tendiert zu optimistischer Interpretation / Verfasser der Studie bleiben mit ihrer Interpretation zurückhaltend / Ein Gespräch mit Georg Pauli ■ Von Manfred Kriener
„Die Arbeit von Imagawa ist sehr aufregend, es stellen sich eine Reihe von neuen Fragen, aber es ändert sich nichts an der bisherigen Strategie der Bekämpfung von Aids. Zu Panik besteht keinerlei Anlaß.“ So faßte gestern der Virologe am Robert-Koch-Institut des Bundesgesundheitsamts Professor Georg , im Gespräch mit der taz die Ergebnisse einer neuen, aufsehenerregenden Studie aus den Vereinigten Staaten zusammen.
Wie am vergangenen Samstag berichtet, haben Wissenschaftler der Universität Los Angeles unter Leitung von David Imagawa eine Studie über „schlummernde“ HIV-Infektionen veröffentlicht. Sie beobachteten - negativ getestete promisk lebende Schwule über einen Zeitraum von drei Jahren und fanden heraus, daß bei 31 von 133 Personen das Virus direkt nachweisbar war, obwohl die klassischen HIV-Tests (Elisa und Western Blot) weiterhin durchweg negativ verliefen. Bis zu drei Jahren - und vielleicht noch länger kann das Virus demnach im Organismus sitzen, ohne daß es durch die üblicherweise angewandten Antikörpertests nachweisbar wäre. Zum Direktnachweis des Virus nahm das Forscherteam Blutproben und züchtete aus den Lymphozyten in einem Nährmedium das Virus heran.
Das neue, hochsensitive Testverfahren PCR, mit dem das Virus ebenfalls ohne den Umweg über Antikörper direkt nachgewiesen werden kann, wurde in einigen wenigen Fällen zusätzlich eingesetzt. Der Virusnachweis ist also nicht, wie zunächst berichtet, nur über das supersensible PCR-Verfahren gelungen, das leicht zu falsch positiven Resultaten führt, sondern vor allem über die methodisch zuverlässige Anzucht von HIV.
Nach der Veröffentlichung der Studie im angesehenen 'New England Journal of Medicine‘ zeigten sich viele Experten und Beobachter „schockiert“. Wie viele HIV-Infektionen sind über Jahre durch die üblichen Antikörpertests übersehen worden? Um wie viele Jahre kann sich die Ausbildung von Antikörpern und damit die Nachweisbarkeit einer Infektion verzögern? Wie viele negativ Getestete sind in Wahrheit positiv? Und wenn das Virus durch die üblichen Tests längere Zeit nicht nachweisbar ist, kann es dann zu Ansteckungen durch Blutspenden kommen, in denen das „schlummernde“ Virus nicht entdeckt wurde? Gravierende Fragen.
Georg Pauli nimmt die neue US-Studie sehr ernst. Für die brisanten Ergebnisse von Imagawa sieht er allerdings verschiedene, möglicherweise auch positive Erklärungen. Pauli weist zunächst darauf hin, daß „der Virusnachweis noch nicht zwangsläufig bedeutet, daß die betreffende Person dann auch infektiös ist, also andere anstecken kann“. Dies sei zwar nicht ganz auszuschließen, aber für eine Ansteckung sei eine bestimmte Menge an Virus notwendig. Die sehr schwankenden Befunde von Imagawa, der bei denselben Männern manchmal Virus feststellen konnte, manchmal aber auch nicht, deute darauf hin, daß sich nur eine äußerst geringe Virusmenge im Organismus befinde, die schwer nachweisbar ist. Auch für die Ausbildung von Antikörpern sei eine bestimmte Menge von Virusbausteinen erforderlich, die offenbar nicht vorhanden ist. Antikörper konnten nämlich nicht nachgewiesen werden. Pauli vermutet, daß es hier eine Wechselwirkung zwischen Virus und Wirtszelle gibt, die dazu führt, daß keine Virusvermehrung stattfindet. Noch einfacher: Der Organismus kann offenbar unter bestimmten Bedingungen das Virus vollständig in Schach halten. HIV ist da, aber die Infektion ist dennoch unter Kontrolle. Die US -Wissenschaftler selbst halten diese Interpretation für durchaus möglich. Auch sie schreiben, „daß man darüber spekulieren darf, daß einige Personen das Virus in sich tragen, aber vielleicht niemals serokonvertieren (Antikörper ausbilden, die Red.). Und weiter: „Man kann von einer dauerhaften Unterdrückung der Aktivität des Virus ausgehen.“ Im Klartext: HIV sei zwar nachweisbar, aber der Infektionsverlauf gestoppt. Trotz dieser hoffnungsvollen Annahme bleibt Imagawa aber vorsichtig und weist darauf hin, daß die Frage der Infektiosität dieser Personen ungeklärt sei: „Besonders wichtig ist die Frage“, ob eine Übertragung (Ansteckung) auf andere möglich ist. Wenn entsprechende Zellen übertragen werden, „könnte eine Infektion erfolgen“.
In vier Fällen aus Imagawas Untersuchungsgruppe gibt es allerdings tatsächlich eine - verspätete? Antikörperreaktion. Ob diese Reaktion wirklich verzögert ist und das Virus vielleicht schon mehrere Jahre „geschlummert“ hat, bevor es aktiv wurde und eine Antikörperreaktion provozierte, stellt Pauli in Frage. Genauso plausibel sei die Erklärung, daß durch einen neuen Sexualkontakt erneut HIV eingefangen wurde und es dann innerhalb der üblichen Zeit von sechs bis acht Wochen zur Antikörperreaktion kam.
Die Vorstellung, daß „schlummerndes“, durch Antikörpertests nicht entdecktes Virus über Blutspenden übertragen werden könnte, ist sicher der brisanteste Aspekt von Imagawas Studie. Pauli hält dem die bisherigen Befunde aus der Blutspendepraxis entgegen. Sein Fazit: Bisher gebe es keine Hinweise dafür, daß es durch nicht entdeckbares, „schlafendes“ Virus zu Ansteckungen gekommen sei. Dann, so Pauli, müßte unter den Blutspendeempfängern eine sehr viel größere Verbreitung von HIV feststellbar sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen