Umstrittener Wahlkompromiß in Polen

■ Regierung und Solidarnosc einigten sich über die Modalitäten zur vollständigen Besetzung des Sejm / Gescheiterte Spitzenkandidaten erhalten eine zweite, im Wahlgesetz nicht vorgesehene Chance

Warschau (dpa/taz) - Die in der Nacht zum Freitag zwischen Regierungsvertretern und Opposition in Polen ausgehandelten Ergänzungswahlen zum Sejm stoßen offenbar auf massives Unverständnis bei den Solidarnosc-Anhängern. In empörten Leserbriefen, Telegrammen und Anrufen wurde der Kompromiß als „Mißachtung des Wählerwillens“ bewertet. Mit dem zusätzlichen, im Gesetz nicht vorgesehenen Wahlgang erhalten die Regierungsparteien die Chance, 33 auf der Landesliste durchgefallene Spitzenfunktionäre doch noch ins Parlament zu hieven und damit die 299 der Regierung vorbehaltenen Sejm -Sitze vollständig zu besetzen. Ursprünglich hatte die Solidarnosc dafür plädiert, daß das neue Parlament selbst über die verfassungsrechtlich komplizierte Situation entscheiden solle. Sie war durch das Scheitern von 33 der 35 konkurrenzlosen Landeslistenkandidaten entstanden.

Die Liste war im Kalkül der Regierung eigentlich als sicheres Ticket für die Spitzenfunktionäre gedacht. Ihr Wahlrisiko sollte - ohne Gegenkandidaten - weitgehend minimiert werden, während sich um die restlichen 264 Regierungsmandate jeweils zwei Kandidaten bewarben. Auf diese Weise sollte der am runden Tisch ausgehandelte 65 -Prozent-Anteil der Regierungsparteien im Sejm besetzt werden. Die Wähler nutzten jedoch die Chance zur Kandidatenstreichung und erteilten den Spitzenvertretern der Prominentenliste eine peinliche Niederlage. Außer zwei profilierten Reformern blieb die Politprominenz unterhalb der 50-Prozent-Marke und damit auf der Strecke. Ministerpräsident Rakowski schaffte 48.1, Innenminister Kiszczak 44.9, Zk-Sekretär Ciosek 41.9 Prozent. Weil die Wahlrechtskonstrukteure einen solchen Ausgang nicht vorhergesehen hatten, drohte mit der Nicht-Besetzung der 33 Mandate der ausgehandelte 65/35-Prozent-Proporz ins Rutschen zu geraten. Mit dem jetzt erzielten Kompromiß erhalten die Gescheiterten wider Erwarten eine zweite Chance. Allerdings müssen auch sie sich am 18. Juni konkurrierenden Bewerbern stellen.

An diesem Tag finden auch die Stichwahlen für die restlichen Sitze statt. Denn im ersten Wahlgang konnten sich nur drei Kandidaten mit absoluter Mehrheit gegen ihre Konkurrenten behaupten. Die übrigen 261 Regierungssitze werden in Stichwahlen vergeben. Ganz anders verlief die Besetzung des Oppositionsanteils. Nach dem Endergebnis konnte das Bürgerkomitee „Solidarität“ 160 der 161 für die Opposition reservierten Mandate besetzen.

Von den hundert Mandaten der zweiten Parlamentskammer (Senat), die in freien Wahlen ohne Proporzregelung vergeben werden, gingen 92 bereits im ersten Wahlgang an die Opposition. Die Bevölkerung nutzte ihre erstmalige Wahlchance für ein radikales Verdikt gegen das System. Mit der Zustimmung zu den Ergänzungswahlen kompensiert die Gewerkschaftsführung die Schlappe der Spitzenfunktionäre. Sie weiß, daß der Umbau in Polen auf die Unterstützung der Reformfraktion in der Partei angewiesen bleibt. Wie weit deren Reformbereitschaft mittlerweile gediehen ist, machte Staatschef Jaruzelski in einem Interview mit dem Londoner 'Independent‘ deutlich: Bei freien Wahlen sei „jeder Ausgang möglich„; er schloß nicht aus, daß die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP) bei den Wahlen 1993 abgewählt werden könne.

eis