„Die Bewegung ist zerschlagen“

In Tianjin, einer Großstadt 100 Kilometer östlich von Peking, werden Bürgerwehren aufgestellt, die den „konterrevolutionären Aktivitäten“ ein Ende setzen sollen / Pekinger Studenten sind in Tianjin abgetaucht  ■  Aus Tianjin Thomas Reichenbach

Angesichts der Verhaftungswelle in Peking flüchten Tausende in die nahegelegene Großstadt Tianjin. Hier hatte die Stadtregierung bisher eine relativ liberale Haltung gegenüber den Studentenprotesten eingenommen. Nach der Niederschlagung der „Konterrevolution“ am 3. und 4.Juni in Peking verfolgt aber auch der Tianjiner Bürgermeister ein Unterdrückungskonzept mit eigener Note. In den Lokalzeitungen hieß es: „Die konterrevolutionären Gewalttäter aus Peking haben sich mit den wenigen Verbrechern Tianjins in Verbindung gesetzt, um in der Friedensinsel Tianjin Chaos zu verbreiten.“ Aber „Tianjin ist Tianjin“ und außerdem seien „die Menschen geeinter als je zuvor“.

Die Repression hat vielerlei Gestalt: Flugblätter verteilen und Wandzeitungen schreiben ist verboten. Sich auf der Straße versammeln und Reden halten ist verboten. Propaganda hören ist verboten. Verkehrsbehinderung, Blockaden und Sabotage sind verboten. Streiks und Unterrichtsboykott sind verboten. In der ganzen Stadt wimmelt es von Zivilpolizisten und Spitzeln, die für die Einhaltung dieser Verordnungen sorgen. Am Abend des 8.Juni fuhr die Armee mit LKWs vor die Tore der lokalen Tianjin- und Nankai-Uni und verhaftete mehrere protestierende Studenten. Razzien nach untergetauchten Pekingern führten am 10. Juni zu mindestens acht Verhaftungen von Pekinger „Studentenführern“. Die am 7. Juni aufgestellte Bürgerwehr „schützt Tianjin, schützt das Volk“, überwacht die Straßen und die Unis und nahm am 11. Juni zehn Verhaftungen vor. In allen Fabriken sind Werkschutztruppen aufgestellt worden, die eine normale Produktion gewährleisten sollen. Die Arbeiter werden von ihren Vorgesetzten zur Teilnahme verpflichtet, andernfalls drohen ihnen Lohnkürzungen und Abmahnungen. An die zwangsorganisierten Arbeiterpatrouillen sind Stahlhelme ausgegeben worden. Unter solchen Umständen überrascht es nicht, daß in Tianjin alles „gut funktioniert“. Der Verkehr fließt normal, es gibt keine Streiks und Protestkundgebungen, die Geschäfte haben alle geöffnet. Die Bevölkerung steht zwar in der Mehrheit auf der Seite der Studenten, aber traut sich nichts mehr zu sagen.

Die Studenten haben - wie in Peking - zum größten Teil die Universitäten verlassen, um die Wahrheit über das Massaker von Peking ins Land zu tragen. Das letzte Studentenkomitee hat sich am 8.Juni nach einer letzten Rundfunksendung an der Nankai-Uni aufgelöst. Die Organisatoren sind alle untergetaucht, die Spuren an den Universitäten sind verwischt. Einer ist geblieben, um denen zu helfen, die hierhergekommen sind, um unterzutauchen. Viele Studenten aus Tianjin hatten sich an der Besetzung des Tiananmen beteiligt und waren in der Nacht des Massakers auf dem Platz. Über Tote und Verletzte gibt es keine Angaben, aber viele Tianjiner werden vermißt. „Zahlreiche Kommilitonen wurden in Peking verhaftet. Am Abend des 4.Juni und zuletzt am 7.Juni haben viele in einer Großdemonstration gegen die blutige Repression protestiert. Dann machte der Terror allen Aktionen ein Ende. Wenn du in der Öffentlichkeit nur ein kritisches Wort sagst, wirst du verhaftet. Die Bewegung ist zerschlagen.“