: Gorbatschow - ein ziviler Machtmensch
■ Ab heute für vier Tage: Rote Fahnen über Bonn / Ein politisches Porträt von Erhard Stölting
Ein seltenes Ereignis in Bonn: Die Bundeshauptstadt darf einen Politiker empfangen - einen Politiker, der seine Bezeichnung nicht nur zu Pensionszwecken mit sich herumträgt. Denn wie kein anderer versteht es Michail Gorbatschow, mit institutioneller Macht zu jonglieren und die verknöcherten Verhältnisse in Zentralkomitee und Nomenklatura zum Tanzen zu bringen. Im Lager des Gegners wird Zwietracht gesät, und Bündnispartner werden angelockt. Gorbatschow - eine Mischung aus Clausewitz, Macchiavelli und dem Heiligen Sankt Michael? Zur Begrüßung eine politische Röntgenaufnahme des Machtmenschen Michail Gorbatschow.
Es war ein typischer Coup: Der kompromißlose Reformer Boris Jelzin war trotz seines überwältigenden Wahlsieges in Moskau von den Volksdeputierten nicht in den neuen Nationalitätensowjet gewählt worden. Nach immer heftigeren Protesten seiner Anhänger veranlaßte Gorbatschow den Abgeordneten Kasannik, zugunsten Jelzins auf sein Mandat zu verzichten. Den liberalen Opponenten war der Wind aus den Segeln genommen, die Situation bewältigt - in einer Weise, die man nicht als Schwäche deuten sollte.
Wer sich Gorbatschows Laufbahn angesehen hat, weiß, daß er klug ist und über ein ganzes Arsenal von politischen Jiu -Jitsu-Tricks verfügt. Die direkte Konfrontation suchte er dann, wenn er schon gewonnen hatte. Sonst verstand er es immer, mit den richtigen Leuten richtig umzugehen und glückliche Umstände zu nutzen; und irgendwann landete er den Coup, der seine Gegner entwaffnete. Wenn Gorbatschow scheitern sollte, dann nicht aus Naivität.
Die Wut des
Jurij Solowjow
Sein letzter großer Streich fand am 25.April statt. In Leningrad waren sechs Spitzenfunktionäre bei den Wahlen zum Volksdeputierten mit Pauken und Trompeten durchgefallen. In ihrem Ärger initiierten sie eine Sondersitzung des ZK; treibende Kraft war der durchgefallene Erste Sekretär des Gebietes Leningrad, Jurij Solowjow. Die Klagen umfaßten die ganze Speisekarte konservativer Kümmernisse: die Kooperativen, die Revision der Geschichtsschreibung, die Verwandlung der Partei in einen Debattierklub, das Ausbleiben klarer ideologischer Direktiven aus dem ZK -Apparat - keiner sagt mehr, was gedacht werden soll.
Solowjows Wut war um so größer, weil Gorbatschow ihn schon einmal ausgetrickst hatte. Er war nicht auf die Liste der hundert Deputierten gelangt, die die Partei in den Kongreß der Volksdeputierten entsenden durfte. Gorbatschow war es über ein kniffliges Auswahlverfahren gelungen, mit einigen Kompromissen vor allem seine Leute zu plazieren. Da er aber das ZK noch nicht hinter sich hatte, wurde das Wahl-Plenum durch Funktionäre von außerhalb auf 641 abstimmungsberechtigte Teilnehmer ergänzt. Solowjow und seine Genossen waren also nicht nur nicht auf der Liste, sie wurden auch noch in eine Wahlniederlage hineinmanövriert.
Aber Solowjow war ebenfalls kein Anfänger. Er rechnete offenbar damit, die Mehrheit des ZK auf seine Seite ziehen zu können, um es dem Generalsekretär heimzuzahlen. Doch der war wieder einmal schneller. Zur Eröffnung der ZK-Sitzung am 25.April konnte er mitteilen, daß just am Vortag 110 Seelen freiwillig aus dem ZK und der Zentralen Revisionskommission ausgeschieden waren. An ihrer Selle rückten 24 Kandidaten zu Vollmitgliedern auf. Das ZK billigte den Rücktritt einstimmig und - wohlgemerkt - in offener Abstimmung. Wie Gorbatschow das hingekriegt hat, ist noch nicht bekannt. Vielleicht hat er den Betroffenen mit der Veröffentlichung ihrer vergangener Schandtaten gedroht, vielleicht mit materiellen Gratifikationen nachgeholfen. Die meisten Ausgeschiedenen hatten schon zuvor jene Posten verloren, die sie für einen Platz in dem erlauchten Gremium qualifizierten. Dabei waren 74 von ihnen erst 1986 auf dem 27.Parteitag Mitglieder geworden. Solange die verbitterte Rentnerfraktion ein Stimmrecht hatte, war es immer noch möglich, Gorbatschow wegzuputschen.
Gorbatschow erscheint unter diesem Aspekt weniger als demokratischer Drachentöter denn als politischer Fuchs, der seinen - in dieser Hisicht ja ebenfalls nicht ganz dämlichen - Kontrahenten immer um eine Nasenlänge voraus ist.
Die Machtverschiebung von Partei zu Staat
Gorbatschows Vorgehen ist aber nicht nur als kurzfristige Taktik zu verstehen. Sie ordnet sich in eine klar erkennbare Strategie ein: die Machtverschiebung vom Partei- auf den Staatsapparat.
Der Aprilstreich macht das in einem wichtigen Detail deutlich: Ein Drittel der neuen ZK-Mitglieder sind Arbeiter und Bauern; 16 sind Frauen und von diesen wiederum 13 Arbeiterinnen oder Bäuerinnen. Ein hoher Frauen- und Arbeiteranteil aber ist unter sowjetischen Verhältnissen noch immer ein untrügliches Indiz für politische Bedeutungslosigkeit. Aber nicht nur die Macht des ZK, auch die des Apparats ist im Handstreich gestutzt worden. Bis zum ZK-Plenum im September 1988 war er das eigentliche Zentrum der Macht. Die ZK-Sekretäre bildeten eine Art Überregierung. Herrscher über diesen Apparat aber war Jegor Ligatschow, dessen Machtübernahme immer wieder bevorzustehen schien was Gorbatschow seinerseits Sympathien eintrug.
Auf diesem Septemberplenum wurden anstelle der allmächtigen Sekretariate Kommissionen gebildet, die vor allem konzeptionell arbeiten und sich nicht mehr in die verwaltend -lenkende Arbeit des Staatsapparates einmischen sollten. Zu Vorsitzenden wurden die ZK-Sekretäre ernannt, deren Aufgaben damit enger umgrenzt wurden. Die Funktion der Sekretariate hingegen geht nun zu den Ausschüssen des neuen Obersten Sowjet über.
Wie es seine Art ist, nutzte Gorbatschow die Strukturreform dieses Plenums auch zu Personalentscheidungen. So schieden zwei konservative Widersacher der neuen Politik, Gromyko und Solomenzew, aus dem Politbüro aus. Vor allem aber traf es Ligatschow. Die Strukturreform des Apparats hatte seine Machtbasis sowieo schon geschwächt. Nun aber war er nur noch für die Landwirtschaft verantwortlich, d.h. er konnte auch für sie verantwortlich gemacht werden. Viel Glück hatte er bisher nicht. Ein allzu konservativ geratener Entwurf seiner Kommission wurde auf dem Märzplenum des ZK zur Überarbeitung zurückgegeben.
Wichtiger aber ist die Kommission für Rechtspolitik, deren Vorsitzender der ehemalige KGB-Chef Tschebrikow ist. Sie soll die Grundlagen für einen rechtsstaatlichen Neubau der Sowjetunion erarbeiten. Tschebrikow selbst äußerst sich zwar oft konservativer als Gorbatschow, aber in der Partei wird er offenbar als dessen Verbündeter gesehen. Während Ligatschow bei der Abstimmung im März über die Parteiliste 78 Gegenstimmen erhielt, sprachen sich nur 13 gegen Tschebrikow aus. Das war nur eine Gegenstimme mehr, als Gorbatschow entgegenzunehmen hatte - also wahrscheinlich diejenige Jelzins.
Verschiedene Akzente
Im Westen erscheint Gorbatschow oft als ein menschlicher St.Michael, der nicht so recht gegen den bürokratischen Drachen ankommt. Die oppositionellen Liberalen in der Sowjetunion hingegen kreiden ihm an, daß er eine tiefgreifende Demokratisierung nur halb will. Aber weder der Konservativismus der Konservativen noch der Liberalismus der Liberalen im Apparat sollte überschätzt werden.
Auffällig ist, daß sich die Gegensätze der Spitzenpolitiker in Akzentsetzungen äußern. Betonen die einen die prinzipielle Bedeutung von Glasnost und offenen Debatten, so verweisen die anderen auf ihren Mißbrauch und auf die organische Einheit von Rechten und Pflichten. Verteidigen die einen die unabhängigen Organisationen, so tadeln die anderen, daß sie zum Teil antisozialistisch bzw. illegal seien. Geht es den einen um die institutionelle Verankerung der Privatinitiative, betonen die anderen eher Gefahren für das sozialistische Eigentum. Reden die einen vom Markt als einem ökonomischen Instrument, so die anderen von einer Beschleunigung der wissenschaftlich-technischen Revolution, einem sparsamen Umgang mit Ressourcen und einer Rationalisierung der Investitionspolitik.
Gorbatschow selbst betont mal dies, mal jenes, immer aber auch das andere. Er balanciert die Flügel aus. Das erklärt nicht nur den schwankenden und oftmals widersprüchlichen Gang der Reform, sondern auch, daß sie bisher relativ friedlich verlaufen ist. Jede Lockerung repressiver Verhältnisse ist ein Drahtseilakt. Den bisher Unterdrückten erscheint der Horizont plötzlich offen, die bisher Mächtigen scheinen schwach - oft schwächer, als sie in Wirklichkeit sind. Andererseits setzt jede Herrschaft aber den Anschein der Macht voraus. Es ist um sie geschehen, wenn dieser Anschein verschwunden ist. Dann können sich die Ereignisse überstürzen. Jede Wiederherstellung der alten Herrschaft wird - falls sie überhaupt noch gelingt - blutig.
Der Gegensatz zwischen den heutigen Reformern und Konservativen im Apparat scheint eher um dieses Problem herum aufzubrechen. Es sind die Reformer, die die Entwicklung vorantreiben oder zumindest politisch absichern, es sind die Konservativen, die „übertriebene“ Hoffnungen dämpfen.
Tarieren statt führen
Das Vermitteln und Austarieren erscheint aber nicht nur als die selbstgewählte persönliche Funktion, sondern als zentrales Instrument der politischen Steuerung. Die Partei soll, den Vorstellungen Gorbatschows entsprechend, zu einem politischen Stabsorgan werden, das die verschiedenen Interessen koordiniert und gemeinsam mit anderen öffentlichen Organisationen Prioritäten festlegt. Sie soll sich jedoch keine Entscheidungsautorität mehr anmaßen. Auf diese Weise könne sie dominante Kraft in der sowjetischen Gesellschaft bleiben. Die praktische Aushandlung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen hingegen soll in den Parlamenten stattfinden.
Damit wird auch die grundsätzliche und wohl endgültige Ablehnung eines Mehrparteiensystems begründet. Der Zusammenprall von organisierten Ideologien könnte ja Bürgerkrieg bedeuten - zumindest solange die Bevölkerung nicht wie in den westlichen Ländern weitgehend entpolitisiert ist.
„Vermittlung“ als politisches Instrument wird auch in den Nationalitätenstreitigkeiten deutlich; eine schreckliche Ausnahme war das Massaker in Tbilissi. Wie sich im Konflikt zwischen Armeniern und Aserbaidschanern zeigte, stellt sie zwar niemanden zufrieden. Aber ohne sie stünde die sowjetische Führung vor der Alternative, entweder einen armenischen oder einen aserbaidschanischen Aufstand ersticken zu müssen. Beide Völker in die Unabhängigkeit zu entlassen, so daß sie sich ungestört bekriegen können, widerspricht einem Essential der sowjetischen Staatsräson. Die Auflösung der Sowjetunion wäre in Rußland politisch nicht durchsetzbar.
Die gegenwärtige Taktik besteht eher im vorsichtigen Zuwarten. Auf die baltischen Unabhängigkeitsforderungen angesprochen, sagte Gorbatschow im März, daß sie angesichts der globalen Tendenzen zur ökonomischen Integration ein Anachronismus seien. Und Ministerpräsident Ryschkow ergänzte: Lege man Weltmarktpreise zugrunde, würden selbst die baltischen Republiken mehr importieren als exportieren, sie verfügten weder über Öl noch über Gas noch über Mineraldünger.
Widersprüche
Die Zeit Gorbatschows hat erstmals seit den zwanziger Jahren eine frei funktionierende Öffentlichkeit hergestellt und große Teile der Bevölkerung mobilisiert. Es entstanden Strömungen und eine Fülle von Gruppen, die das Spektrum des Parteiapparates überschreiten. Vor allem in den Jahren 1987 und 1988 entwickelten sich gesellschaftliche Eigendynamiken, die von der Partei nicht mehr vollkommen beherrscht werden und die die politischen Apparate zum Manövrieren zwingen.
Die beiden Lager, das liberale und das konservative, sind in sich heterogen und gegen die Partei keineswegs abgeschottet; an vielen Stellen gibt es Übergänge und Einflüsse. So bleiben Partei und Staatsapparat unter gesellschaftlichem Einfluß. Anders ausgedrückt: Die gesellschaftlichen Strömungen bewegen sich auch durch den Machtapparat hindurch, der als solcher jedoch immer wieder zur Reaktionen gezwungen ist.
Besondere Aufmerksamkeit im Westen haben bisher die liberalen Strömungen gefunden, innerhalb derer das kulturelle Leben aufgeblüht ist. Dieses Milieu, auf das sich Gorbatschow nach 1985 stützen konnte, wird gegenüber dem Generalsekretär jetzt zunehmend kritisch.
Noch unterschätzt jedoch wird die merkwürdige Allianz von Alt- und Neostalinisten einerseits und russischen Nationalisten andererseits. Der Große Vaterländische Krieg und sein Heros Stalin werden hier zu Symbolen eines starken und moralisch gesunden Rußlands, das die anderen Völker mit starker Hand beschützt und führt. Der zersetzende Einfluß des Westens kann ebenso mit sozialistischen wie mit altslawischen Argumenten angegriffen werden. Dieser Strömung, in der sich nicht selten schrille antisemitische Töne finden, scheint sich mehr und mehr auch die orthodoxe Kirche als Symbol russischer Kontinuität zuzuordnen.
Wenn es gegenwärtig eine diktatorische Gefahr in der Sowjetunion gibt, dann kommt sie von dort und nicht mehr von zahlosen Bürokraten. Gorbatschow ist zweifellos Gegner dieser Tendenz. Die undemokratische Machtzusammenballung bei ihm kann jetzt noch Mittel sein, Reformen mit List und Tücke auszuhebeln. In anderer Hand jedoch könnte sie eine Tyrannei unangreifbar machen - falls das nicht schon bei Gorbatschow selbst geschieht. Gorbatschow ist zwar ein gerissener Machtstratege, aber weder ein „großer Führer“ noch ein populistischer Volkstribun. In diesem Sinne ist er sogar „ziviler“ als sein liberaler Kontrahent Jelzin. Ein Glück, daß die russischen Nationalisten ihren Jelzin noch nicht gefunden haben.
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