Görges Traum im Spießer-Kollektiv

■ „Traumgörge„-Premiere verdiente sich hingebungsvollen Beifall und gezielte Buhs

Spiegelein, Spiegelein an der Wand , so träumt Görge, in seiner Kuschelecke im 4. Hinterhof von Kreuzberg, den Teddybären innig herzend; einlullend summt ein Chor aus dem Off sein Ah-Aaah, des Träumers aus der Erinnerung hervorgezwungene Mutter erzählt vom glücklichen Paare, das heute noch lebe, wenn es nicht gestorben sei; Grete, die Braut des Träumers, die ihn entschwinden sieht, wünscht ihm seliges Schlummern, dem Dummen und die biederen Nachbarn aus ihren Fensterhöhlen glotzend verstehen gar nichts mehr und halten es für das Beste, Görges ganze Bibliothek zu verbrennen.

Robert Tannenbaum, junger amerikanischer Opernregiesseur hat in Bremen „Traumgörge“, Oper von Alexander Zemlinsky, Libretto von Leo Feld herausgebracht. (vgl. taz-Sonderseite 10.6.) Es ist die 2. szenische Aufführung des Meisterwerks der Zeitenwende, das rund ein Vierteljahrhundert im Archich der Wiener Staatsoper vor sich hingegilbt hat.

Tannenbaum inszeniert kein glitzernd verführerisches Jugendstilmärchen für Kenner, das nun auch einem breiten Opernpublikum schmackhaft ge

macht werden soll, er behandelt den „Traumgörge“ wie ein großes Stück Opernliteratur, das getrost entrümpelt und neu gesehen werden kann. Ungebremst liest er aus Text und Musik heraus, was das christliche Abendland im 20. Jahrhundert den Individuum geboten hat und noch bietet. Görges Märchenträume entpuppen sich als Hollywood-Werbespot, seine Sucht nach Wärme und Glück treibt ihn in den Alkohol, die redlich sich nährenden „einfachen Leute“ wandeln sich ins kleinbürgerlich verspießerte Kollektiv, das Normabweichung zum Progrom reizt. Görges Rückkehr in die Heimat nach vergeblicher Mühe in der Welt draußen Befreiung zu finden, vom Libretto als „Zum Leben gesunden“ gewürdigt, wird zum alkoholdurchtränkten Verdämmern im Fiebertraum. So bleibt der ganze beeindruckende und bedrückende Aufwand an Bildern von den großen kollektiven und kulturellen Katastrophen unseres Jahrhunderts - vom Faschismus bis zum TV-Werbespot nur Kolorit - in Schwarz, Weiß und Grau - für die individuelle Tragödie eines infantilen, in den Suff fliehenden Muttersöhnchens. Zemlinskys musikalisch vielschichtige Hier

die Sängerin

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„Traumgörge„-Szene Foto: Landsber

Analyse des in der bürgerlichen Gesellschaft mit seinen schwärmerischen Visionen scheiternden Außenseiters wird so zum Fall für die psychosozialen Dienstleistungen von Psychatern und Drogenberatung. Zum Fall allerdings, der eindringlich und hautnah auf die Bühne gebracht wird. Görges Weltverlorenheit nicht als süß-schmerzliches Gefühl, sondern als tödliche und unvermeidbare Krankheit.

Was die szenische Konzeption der Inszenierung an Kritik hervorruft, muß angesichts der enormen produktiven Kraftentfaltung der Ausführenden verstummen. Dirigent Antony Beaumont geht mit dem sorgfältig auf die Partitur vorbereiteten Orchester Zemlinskys Musik auf den Grund und fördert unter der schillernden Oberfläche, die nostalgisch verklärte Nachtklänge nahelegt, Kanten, Risse und Brüche zutage, die Zemlinsky als unglaublich bewußt gestaltenden, seiner Zeit und dem Zeitgeist äußerst skeptisch gegenüberstehenden wachen Komponisten ausweisen, vielleicht als den aufmerksamsten musikalischen Zeitkritiker der Jahrhundertwende. Großen An

teil am Gelingen dieses Zemlinskybildes hatte das Bremer Ensemble, aus dem Tadeusz Galczuk mit seiner die pathologischen und selbstzerstörerischen Strukturen des Traumgörge präzise herausarbeitenden Leistung herausragte, nicht zu vergessen seine beiden Traumfrauen Katthryn Carpenter und Sherry Zannoth.

Das Bremer Premierenpublikum, dessen geschmäcklerischer Teil den Neugierigen schon nach dem 1. Akt das Feld überlassen hatte, dankte für diesen großen aber anfechtbaren Bremer Opernabend mit hingebungsvollen Beifallsstürmen, denen durchaus wohlüberlegte Buhs eingelagert waren.

Mario Nitsche