Verwahrvollzug wie im 19.Jahrhundert

■ Die Gefangenen in der Strafanstalt Tegel erwarten umgehend Reformen / Noch immer schaltet und waltet die allseits verhaßte Abteilung Sicherheit autonom

Die beiden Kirchtürme aus rotem Klinker überragen weit sichtbar die 4,90 Meter hohe Mauer, hinter der sich die größte Haftanstalt Europas befindet: Die 1896 erbaute Justizvollzugsanstalt für Männer im Bezirk Tegel. Unter der Kontrolle von gut 500 Vollzugsbeamten leben und arbeiten hier über 1.050 Gefangene, darunter zwölf Sicherungsverwahrte und 83 Lebenslängliche. Inhaftiert sind die Gefangenen in sechs voneinander getrennten Häusern mit ebensovielen unterschiedlichen Vollzugskonzeptionen.

So dominiert in den Anstaltshäusern III E und IV der psychosoziale „Behandlungsvollzug“, während in den neuen Häusern V und VI der Kleingruppen-Vollzug die Regel ist. In den Häusern II und III hingegen herrscht der traditionelle Regelvollzug, im Klartext gröbster Verwahrvollzug für Langstrafer und renitente Gefangene. In diesen beiden Häusern, von denen eines, das Haus II, als Zugangshaus für Neuankömmlinge genutzt wird, ist es in den vergangenen Tagen zu Protestaktionen der Gefangenen gekommen. Mittels massenhafter Arbeitsniederlegung machten die Gefangenen auf die unhaltbaren Zustände vor allem in diesen Häusern aufmerksam. In einem Forderungskatalog wandten sich die Gefangenen an die Öffentlichkeit und die politisch Verantwortlichen und verlangten die unverzügliche Abschaffung der übelsten Mißstände: Von der Schließung der Isolations- und Arrestzellen bis zur Gewährung längerer Aufschlußzeiten, von der Erstellung von Vollzugsplänen und der Forderung nach Tariflohn bis hin zu sachkompetenten Sozialarbeitern. Durchweg Forderungen, die lediglich dem Auftrag des inzwischen seit zwölf Jahren gültigen Strafvollzugsgesetzes entsprechen. Zusagen gab es von seiten der Justiz zunächst nur hinsichtlich längerer Aufschlußzeiten in beiden Häusern am Wochenende. Für den 21.6.89 hat sich Justizsenatorin Limbach (SPD) zu einem Informationsbesuch im Knast Tegel angesagt. Die Senatorin will dabei auch mit der Insassen-Vertretung sprechen.

Mit dem Antritt des rot-grünen Senats hatten viele Gefangene in Tegel die Hoffnung verbunden, unter der neuen Regierung werde es endlich zu einer spürbaren Liberalisierung im Strafvollzug kommen. „Mehr als Versprechungen sind, abgesehen von dem Auswechseln einiger Hardliner in der Vollzugsadministration, allerdings bisher aus dem Rathaus Schöneberg noch nicht gekommen“, schimpft ein Langstrafer aus Haus III. Dabei gäbe es eine Menge zu tun. Bereits kurz nach dem Antritt der CDU/FDP-Koalition im Jahre 1981 begann die „konservative Gegenreform“, wie Ex -Justizsenator Scholz den Salto rückwärts im Vollzug seinerzeit genannt hatte. Im September 1983 wurden die Ausführungsvorschriften zu den Lockerungsparagraphen betreffend Ausführungen, Ausgänge und offener Vollzug restriktiv abgeändert, die Schwelle für diese Lockerungen wurden erheblich angehoben. Dem Primat der Sicherheit folgend, hat unter der CDU eine schleichende aber stetige repressive Umstrukturierung des Gefangenenalltags stattgefunden. „Die mit der Erfindung des Radios und der pflegeleichten Textilien einhergehende Veränderung im Vollzugsalltag ändert indes nichts daran, daß der größte Teil der Häftlinge unter den Bedingungen des neunzehnten Jahrhunderts lebt und arbeitet“, charakterisiert ein Langstrafer die Situation in Tegel.

Ein Blick auf Vollzugsformen und Vollzugsalltag in den Häusern II und III gibt ihm recht. Die zumeist türkischen und arabischen Gefangenen in Haus II sind in 373 Einzelzellen untergebracht, und lediglich zwischen 15.30 und 17 Uhr sind alle Zellen offen. Für die ausländischen Gefangenen gibt es so gut wie keinerlei kulturelle oder Bildungsangebote. Gut drei Dutzend Bücher in ihrer Heimatsprache sind alles, was die Bibliothek zu bieten hat. Urlaub oder Vollzugslockerungen werden hier allenfalls als Ausnahmefall gewährt. Das alte, in traditioneller Sternform errichtete Gebäude wird hauptsächlich als Zugangshaus für Neuankömmlinge benutzt. Untergebracht sind hier aber auch Gefangene, die nicht mehr als 18 Monate Strafe haben.

„Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit in räumlicher Enge und täglicher Hektik, der soziale Kontakt kann nur während einer Stunde stattfinden, fördern Aggressionen und Drogenkonsum“, so einer der Gefangenen. Ähnlich ist die Situation im Haus für Langstrafer, dem ebenfalls aus der Jahrhundertwende stammenden Haus III mit 370 Haftplätzen. „Hier ist das Vollzugsgesetz fast völlig außer Kraft gesetzt, was hier praktiziert wird, ist purer Verwahrvollzug“, charakterisiert ein Sozialarbeiter den Zustand in Haus III. Für die jahrelang Einsitzenden gibt es weder Steckdosen noch Gruppenangebote, abgesehen von Tischtennis- und Schachgruppen. Die nur kurzen Zellenaufschlußzeiten von täglich zweieinhalb Stunden verschärfen die Isolation und tragen eher zur Asozialisierung als zur Resozialisierung bei. Perspektivlosigkeit, Drogenkonsum und Aggressionen untereinander bestimmen den Alltag der Gefangen in diesem „Höllenhaus“.

Damit der Dampfkessel nicht eines Tages platzt, führt seit Jahren Hausleiter Müller ein strenges Regiment. Müller, dessen rigorose Hausstrafpraxis mehrfach von Gerichten korrigiert werden mußte, verhängte im Jahr 1987 beispielsweise 407 Hausstrafen, während in allen anderen Häusern im gleichen Zeitraum zusammen nur 63 Strafen zu verzeichnen waren. Einem einzigen Gefangenen mit Alkoholproblemen verpaßte Müller im Laufe von drei Jahren 108 Tage Bunker. Zur Schikane der Gefangenen verfügen die Hausleiter über ein ansehnliches Sortiment von Strafen. Das reicht vom Entzug des monatlichen Einkaufes über Fernseh-, Besuchs- und Beschäftigungsverbot und Einzelisolation bis hin zu tagelanger Unterbringung im Bunker.

Mit dem Bau von neuen und der Schließung der alten Häuser wollten die Justizsenatoren der verschiedenen Regierungen seit Mitte der siebziger Jahre zumindest die baulichen Mängel abschaffen. Denn nur dann sei auch ein Vollzug möglich, wie er im Strafvollzugsgesetz vorgeschrieben ist, hieß es in jener Zeit. Die beiden neuen Häuser V und VI stehen inzwischen, „aber eine Veränderung haben sie nicht gebracht, eher ist alles noch schlimmer geworden“, erklärt ein Gefangener aus Haus VI. Diese Teilanstalt entspricht nicht nur äußerlich, sondern auch in der Unterbringungskonzeption der Stammheimer Hochsicherheitsfestung. Die berüchtigte Sägezahnfassade verunmöglicht ein Zurufen der Gefangenen von Fenster zu Fenster. Die hier inhaftierten 147 Gefangenen sind in zwölf überschaubaren, voneinander isolierten Bereichen untergebracht. Der sogenannte „Etagenverschluß“ läßt nur noch Gruppen von bis zu 30 Gefangenen zu und bildet mit dieser Parzellierung genau das Vollzugskonzept der achtziger Jahre ab: Kleine, überschaubare und damit noch besser zu kontrollierende Gruppen. In der bereits nach diesem System erbauten Haftanstalt für Frauen in Plötzensee hat es nicht zuletzt wegen dieses Etagenvollzuges wochenlang heftige Proteste der gefangenen Frauen gegeben. Nicht nur daß die für die Gefangenen so wichtige Subkultur, der Handel und Wandel im Knast, damit ausgetrocknet wird, die Gefangenen werden „auch häufiger krank, die Denunziationen und Aggressionen nehmen zu“, klagt ein Sozialarbeiter über den Zustand in den beiden neuen Tegeler Häusern. Immerhin hat der neue Senat einen sofortigen Stopp für den Bau weiterer solcher Gefängnisse verfügt.

Überschaubare Bereiche gibt es aber nicht nur in den Häusern selbst, sondern das ganze Anstaltsgelände ist seit Anfang der achtziger Jahre mit Zäunen regelrecht zerhackstückt worden. Kein Freistundenhof, kein Weg oder Durchgang blieb unverschont: Zäune, verschlossene Türen und Gitter ermöglichen so auch die lückenlose Kontrolle der Gefangenen, die sich von den „Verwahrhäusern“ zu den Arbeitsbetrieben oder in die Sprechzentren bewegen. Um ans Ziel zu gelangen, müssen sie sich durchschließen lassen, und das geht nur, wenn sie einen Passierschein haben. Über all das wacht seit Jahren eine eigens dafür eingerichtete Abteilung: Die Abteilung Sicherheit. Nahezu uneingeschränkt herrscht die „Sicherheit“ in der Strafanstalt Tegel. Wann immer sie es aus Gründen der „Sicherheit und Ordnung“ für notwendig hält, greift diese aus knapp einem Dutzend Beamten bestehende Truppe in den Alltag der Gefangenen ein. Überraschungsfilzen, vor allem an Wochenenden, willkürliche Kontrollen bis hin zu Hosentaschen filzen haben die Truppe zur meistgehaßten Institution in der Anstalt werden lassen. Sie agiert auf dem Anstaltsgelände und in den Häusern nahezu autonom und schikaniert die Gefangenen auf jede erdenkliche Weise. Ihre Zellenfilzungen sind so berüchtigt, daß die Truppe schon vor Jahren mehrfach von Gerichten zur Mäßigung gemahnt werden mußte. Mit Gewohnheitsrechten, die weit über die der Kriminalpolizei hinausgehen, ermittelt, durchsucht und bestraft diese Abteilung Gefangene, wann immer sie glaubt Anlaß dafür zu haben. Mit Metalldetektoren und nicht selten mit Hammer und Meißel stehen die berüchtigten Beamten überraschend in der Zelle eines „Verdächtigen“ und verlassen diese erst, wenn alles rigoros durchsucht und auf den Kopf gestellt worden ist. Die Sicherheitsabteilung entscheidet vielfach, ob ein Gefangener in diesem Betrieb oder in jenem arbeiten darf oder aber überhaupt keine Arbeit bekommt. Von der Sicherheit hängt es auch ab, welcher Gefangene in welches Haus gelegt wird. So genügt ein vager Hinweis auf Fluchtabsichten, und die Sicherheit sorgt dafür, daß der Gefangene für Jahre nach Moabit verschwindet. Inzwischen hat sich die repressive Truppe sogar ein eigenes Gefängnis im Gefängnis zugelegt: Sie verfügt nicht nur im stillgelegten Haus I über einen Flügel, in dem sie „Verdächtige“ eine Weile unterbringt, sondern auch im Haus III steht ihr die Station B I für „Fluchtwillige“ und andere von ihnen verdächtigte Gefangene bereit. Außer daß diese Truppe seit Jahren die Gefangenen terrorisiert, zeigt sie sich ansonsten wenig effizient. Weder Waffenschmuggel noch Ausbrüche und schon gar nicht den Heroinhandel hat sie je verhindern können.

Nach der Regierungsübernahme von Rot-Grün kamen die Hardliner wieder ins Gerede: Laut Koalitionsvereinbarungen ist die umstrittene Truppe ersatzlos abzuschaffen. Um das zu verhindern, versuchte sie flugs ihre Notwendigkeit unter Beweis zu stellen: Im März verkündete die Abteilung Sicherheit, daß es auf ihre gute Arbeit zurückzuführen sei, daß ein Rechtsanwalt als Drogenschlepper überführt werden konnte. Der Rechtsanwalt wurde verhaftet. Die Beweisführung der Sicherheit ist allerdings mehr als dünn. Gefangene, die selbst als Dealer inhaftiert sind, haben der „Sicherheit“ angeblich den Tip gegeben. Seit jeher gibt es für die Denunzianten Hafterleichterungen, und nicht selten sind die „Belastungen“ frei erfunden. Auch der Fall des angeblich drogenschmuggelnden Rechtsanwalts könnte zu einem Dilemma für die „Sicherheit“ werden: Immerhin gibt es für Dealer schon seit längerem eine „Kronzeugenregelung“.

Ob die rot-grüne Regierung ihre in den Koalitionsverhandlungen vereinbarten Kompromisse gegen den Repressionsfilz jedoch überhaupt durchsetzen kann, ist fraglich. Bereits seit zwölf Jahren läßt allein die Durchsetzung des gesetzlichen Auftrags, der sich aus dem seit 1977 gültigen Strafvollzugsgesetz ergibt, auf sich warten. Der streng konservativ ausgerichtete mächtige „Verband der Berliner Vollzugsbediensteten im deutschen Beamtenbund“ hat bereits offen zur Sabotage gegen die Liberalisierungskonzepte der neuen Regierung mobilisiert.

Till Meyer