Kinder ohne Hoffnung: Auf den Philippinen ist die Zahl der elternlosen und verstoßenen Straßenkinder, der Streuner und Ausreißer ohne ein Zuhause und ohne Zukunftschancen Legion. Viele sehen in der Prostitution die einzige Chance...

Roland Dusik KINDER OHNE HOFFNUNG

Auf den Philippinen ist die Zahl der elternlosen und verstoßenen Straßenkinder, der Streuner und Ausreißer ohne ein Zuhause und ohne Zukunftschancen Legion. Viele sehen in der Prostitution die einzige Chance, ihr Überleben zu sichern.

Jeden Abend, wenn in der Manila-Bucht die Sonne versinkt und Ermita, Tummelplatz und Jagdrevier der Sextouristen in der Philippinen-Hauptstadt, zu neonbeleuchtetem Leben erwacht, herrscht im „Lighthouse“ Hochbetrieb. Scharen magerer, kleiner Geschöpfe, viele in zerschlissener Kleidung, drängeln sich dann in der von der kanadischen „People's Church“ finanzierten Missionsstation: Kinder zwischen sieben und fünfzehn Jahre alt, die für zwei Stunden ihre „Arbeitsplätze“ im Vergnügungsviertel verlassen haben.

Mit gesenkten Köpfen lauscht das Häuflein, wenn in der Bibelstunde von Jesus, dem Erlöser, die Rede ist, der Licht auch in die Schmuddelwelt der Bars von Manila bringen werde. Aber schon beim Vaterunser schielen die Kleinen hinüber zur Küche, wo der Dampf aus dem Reistopf steigt. Dem halben Dutzend Helfer, die in der Station rund um die Uhr Dienst tun, ist klar, daß ihre Schützlinge vor allem wegen der abendlichen Armenspeisung zu ihnen kommen. Doch das entmutigt sie nicht. Die Illusion, der Massenprostitution von Ermita ein Ende bereiten zu können, hatten sie nie. Aber noch immer haben sie die Hoffnung, wenigstens ein paar Kinder zu retten.

Früher, zu Zeiten des großen Diktators, nannte man sie die „Marcos-Kinder“: Die nach Hunderttausenden zählenden elternlosen oder verstoßenen Straßenkinder, die Streuner und Ausreißer ohne Zukunftschancen, für die sich das Überleben in den Asphaltdschungeln der philippinischen Großstädte immer nur auf einen einzigen Tag konzentriert. Nach offiziellen Angaben philippinischer Behörden leben allein in den Straßen von Metro Manila zwischen 75.000 und 100.000 Kinder ohne ein festes Zuhause, ohne jegliche familiäre Bindungen. Kinder, die keiner will und für die sich keiner zuständig fühlt. Sie schlafen in Abbruchhäusern, zwischen Ratten und Kakerlaken, zwischen Abfall und Müll, in Autowracks, unter Brücken oder auf Bänken im Rizal-Park. Sie lungern vor dem „Hilton Hotel“ oder dem „Aristocrat Restaurant“, streunen nachts um die Go-Go-Bars und Nightclubs in Ermita, die Haare ausgeblichen von Sonne und Mangelernährung, in Lumpen, barfuß und verdreckt. Wenn Touristen auftauchen, strecken sie begehrlich die Hände aus und warten auf Almosen, zunächst bittend, dann mit Nachdruck fordernd. Niemand kennt die genaue Zahl der Straßenkinder auf dem Archipel der 7.107 Inseln; Schätzungen internationaler Hilfsorganisationen schwanken zwischen zwei und drei Millionen. Auch unter Corazon Aquino, der „gelben Madonna“, die im Februar 1986 ihr Amt mit dem Versprechen antrat, ihr ganzes Engagement den Armen und Unterprivilegierten zu widmen, hat sich an der Situation dieser minderjährigen Opfer von Ausbeutung und Gleichgültigkeit nicht das geringste geändert. * * *

Am späten Abend in Raymond's Fast Food Centre in der „Em Eitsch“, wie Ermitas M.H. del Pilar St., das Zentrum des hauptstädtischen Glamourviertels, im Straßenjargon genannt wird. Ein vielleicht zehnjähriger Junge, dem Jeans und T -Shirt in Lumpen am ausgemergelten Körper hängen, versucht sich am blauuniformierten Wachmann vorbeizustehlen, um von den Touristen im Restaurant ein paar Pesos zu erbetteln. Er kommt nicht weit. Ein Gummiknüppel knallt auf seinen Rücken, ein Lederstiefel trifft ihn am Oberschenkel. Wie ein geprügelter Hund kauert der Kleine am Boden. Doch er spürt die Schläge und Demütigungen schon lange nicht mehr, sind sie doch bereits zu einem festen Bestandteil seines Alltags geworden.

„Am Anfang habe auch ich nur gebettelt“, sagt der zwölfjährige Manuel, „meistens vor dem Pistang Pilipino, weil da die meisten Touristen entlangkommen, um Souvenirs einzukaufen. Aber das bringt nicht viel. Von zehn Fremden gibt höchstens einer mal was.“ Danach, Manuel war gerade zehn Jahre alt, verkaufte er in den Bars, Klubs und Freiluftrestaurants des „Tourist Belt“ Kaugummi und Zigaretten, und - als auch das nicht zum (Über-)Leben reichte - schließlich sich selbst. Obwohl es auf den Philippinen ein Gesetz gibt, das die „sexuelle Ausbeutung“ von Minderjährigen unter Strafe stellt und obwohl im vergangenen Jahr nach Razzien in einschlägigen Etablissements zahlreiche Ausländer, die in Kinderbegleitung erwischt wurden, ausgewiesen wurden, gehen nach Schätzungen von Sozialarbeitern allein in Manila rund 10.000 bis 12.000 Kinder auf den Strich. Bereits am frühen Nachmittag machen sie, Mädchen wie Jungen, tagtäglich ihre Runden in den schmuddeligen Seitenstraßen mit ihren schummrigen Bars und den als Massagesalons getarnten Bordellen hinter dem pompösen Roxasboulevard. Sie gehen mit jedem ins nächste Stundenhotel, der bereit ist, wenigstens hundert Pesos (etwa zehn Mark) zu bezahlen. Mit ihrem kargen Liebeslohn sichern sie ihr eigenes Überleben und nicht selten auch noch das ihrer oft vielköpfigen Familien. Die Notstandsprostitution Tausender von Filipinokindern hat diesem südostasiatischen Land mittlerweile den zweifelhaften Ruf eines „Paradies eines Päderasten“ eingebracht. * * *

„Wenn ich Glück habe“, erzählt der 13jährige Jimmy, der sein Geld ebenfalls als Strichjunge verdient, „lerne ich auch großzügige Kunden kennen, die zwei oder drei Wochen lang mit mir herumreisen und mir auch neue Schuhe und Kleidung kaufen.“ Jimmy kennt die Tricks und Kniffe der „Ermita Scene“ wie kein anderer. Er wurde in Ermita geboren und ist hier aufgewachsen. Seine Mutter arbeitete jahrelang als Animiermädchen in einer Bar, bevor sie, noch keine 30 Jahre alt, gefeuert wurde. Jetzt jobbt sie gelegentlich auf dem Divisoria-Markt im Norden von Manila und ist auf jeden Peso angewiesen, den ihr Jimmy gelegentlich zustecken kann. „Manchmal ekele ich mich vor den Kerlen, die mich mit in ihr Hotel nehmen“, fährt Jimmy fort, „aber ich brauche ihr Geld, und wenn ich es überhaupt nicht aushalten kann, dann hilft mir 'Hit‘.“ „Hit“ - so nennen die Straßenkinder Ermitas den Rausch aus der Tüte. Klebstoff, Nitroverdünner, Fleckenwasser, Nagellackentferner oder, als billigste Möglichkeit, Autobenzin. Schon Sieben- und Achtjährige beginnen in Manilas Straßen mit dem lebensgefährlichen Schnüffeln, hängen am Chemiebeutel wie Babys am Schnuller. Die giftigen Chemikaliendämpfe helfen gegen vieles: gegen Hunger und Schmerz, Einsamkeit und Demütigungen. Die gesundheitlichen Risiken ihrer Sucht sind den Kindern ebensowenig bewußt wie die mit dem täglichen Anschaffen verbundenen Gefahren. Bedroht sind Manilas Kinderprostituierte längst nicht mehr von Gonorrhoe und Syphillis allein. In- und ausländische Experten warnen, daß sich die Philippinen am Rande einer Aids-Epidemie befinden. Umfragen haben ergeben, daß die Freier von rund drei Viertel aller Strichjungen den Gebrauch von Kondomen ablehnen. Das Leben von kleinen Jungen wie Manuel und Jimmy, die praktisch nichts über Aids wissen, kommt daher einem langsamen Selbstmord gleich. * * *

Trotz allem gehören Manuel und Jimmy noch zu den „glücklicheren“ unter Manilas Straßenkindern. Sie wirken sauber und adrett und sprechen zumindest ein paar Brocken Englisch - Voraussetzungen für das Leben als Strichjungen. Aber da sind noch die zahllosen Kinderkrüppel, die Opfer von Polio und anderen Krankheiten, die sich, Handballen und Knie notdürftig durch in Streifen geschnittene Autoreifen geschützt, über die Gehwege schleppen. Und schließlich die Bataillone von entwurzelten und verwahrlosten Kindern, die sich von der Gesellschaft nehmen, was die ihnen nicht freiwillig gibt. Um im Zehn-Millionen-Moloch Manila nicht völlig chancenlos zu sein, schließen sich Straßenjungen und

-mädchen immer öfter zu Banden zusammen. Zeichen der Mitgliedschaft sind häufig kleine Tätowierungen am Nasenflügel oder an der Wange. Die Aufnahmebedingungen sind rigoros und den rauhen Erfordernissen des täglichen Überlebenskampfes angepaßt. Eine Gang beispielsweise akzeptiert nur jemanden als neues Mitglied, der mindestens fünfmal auf offener Straße Passanten die Hand- oder Aktentasche entrissen hat. Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Banden werden oft blutig mit Knüppeln und Messern ausgetragen. * * *

Versuche der viel zu wenigen Sozialarbeiter, den Straßenkindern zu helfen, sind in der Regel von vorneherein zum Scheitern verurteilt, denn es gibt kaum Heime oder Rehabilitationseinrichtungen.

Nach Angaben des philippinischen Sozialministeriums machen die Straßenkinder bereits einen Anteil von vier bis fünf Prozent an der Gesamtbevölkerung aus. Und täglich werden es mehr, denn die Philippinen besitzen mit über 2,8 Prozent die höchste Rate des jährlichen Bevölkerungswachstums im gesamten südostasiatischen Raum. Während man von Ende der siebziger bis Mitte der achtziger Jahre durch großangelegte Regierungskampagnen für eine effektive Familienplanung das jährliche Bevölkerungswachstum auf unter 2,5 Prozent senken konnte, wurden unter der stark vom konservativen katholischen Klerus beeinflußten Aquino-Administration die finanziellen Mittel für das nationale Familienplanungsprogramm drastisch gekürzt. Auch läßt die mächtige katholische Kirche in Roms fernöstlichem Außenposten keine Chance ungenutzt, ihre Botschaft von der Verwerflichkeit der künstlichen Empfängnisverhütung dem Volk nahezubringen. Im September letzten Jahres beispielsweise gab der Erzbischof von Manila, Cardinal Jaime Sin, seinen Priestern landesweit die Anweisung, einen Hirtenbrief zu verlesen, in dem er alle Methoden der künstlichen Geburtenkontrolle aufs schärfste verurteilte. Dabei haben Untersuchungen gezeigt, daß unter den städtischen Armen rund zwei Drittel aller Mütter nicht mehr als zwei Kinder wünschen. Aber die meisten von ihnen wissen wenig oder nichts über Empfängnisverhütung, und die Regierung unternimmt viel zuwenig, um sie darüber zu unterrichten. Derzeit sind fast 50 Prozent aller Filipinos unter 15 Jahre alt, und die Bevölkerung wächst weiter um über 1,6 Millionen Menschen pro Jahr.