Abkehr von der Abschiebungspraxis?

In Härtefällen will der Berliner Senat abgelehnten AsylbewerberInnen Aufenthaltsrecht gewähren / Auch „geschlechtsspezifische Verfolgung“ anerkannt  ■ D O K U M E N T A T I O N

Ein Novum in der Flüchtlings- und Ausländerpolitik der Bundesrepublik sind die Regelungen für den Aufenthaltsstatus und Abschiebeschutz ausländischer Flüchtlinge, auf die sich SPD und AL in Berlin geeinigt haben. Wir dokumentieren die Weisung, die auch Anregung für andere Bundesländer sein kann.

1. Ehemalige Asylantragsteller

1.1 Nach bestandskräftiger Ablehnung des Asylantrags sind die betroffenen AusländerInnen, die nicht aus asylunabhängigen Gründen eine Aufenthaltserlaubnis haben, grundsätzlich zur Ausreise verpflichtet. Hierfür ist eine Ausreisefrist von drei Monaten einzuräumen, auch wenn in einem früher ergangenen Bescheid nach §28 AsylVfG eine kürzere Frist gesetzt worden ist; erforderlichenfalls ist die Aufenthaltsgestattung entsprechend zu verlängern.

Zur Vermeidung besonderer Härten ist nach Maßgabe der folgenden Regelungen von der Durchsetzung der Ausreisepflicht abzusehen und statt dessen den Betroffenen der weitere Aufenthalt zu ermöglichen.

1.2 Ehemaligen Asylantragstellern wird eine Aufenthaltserlaubnis erteilt, wenn

1.2.1 sie sich im Zeitpunkt der Entscheidung über die Aufenthaltsbeendigung seit mindestens fünf Jahren aufgrund des Asylverfahrens ununterbrochen rechtmäßig im Geltungsbereich des Ausländergesetzes aufgehalten haben; (...)

oder wenn

1.2.2 sie durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen

-von dem Ehegatten mit einem eigenen Aufenthaltsrecht (hierunter fällt nicht das aus einem anhängigen Asylverfahren folgende Aufenthaltsrecht)

-oder von minderjährigen ehelichen oder nichtehelichen Kindern, die sich erlaubt aufhalten und zu denen sie eine reale Eltern-Kind-Beziehung haben,

getrennt würden.

1.3 Die Regelung nach Nr.1.2 gilt nur für Personen, die für die Dauer des Asylverfahrens dem Land Berlin zugewiesen waren.

2. AusländerInnen ohne Rückkehrmöglichkeit

2.1 Bei AusländerInnen, die nach allgemeinen ausländerrechtlichen Vorschriften zur Ausreise verpflichtet sind, ist von der Durchsetzung der Ausreisepflicht abzusehen und unabhängig von Zweck und Dauer des bisherigen Aufenthalts eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn

2.1.1 sie wegen der Verhältnisse in ihrem Herkunftsland nicht dorthin abgeschoben werden können; dies gilt zur Zeit allgemein für folgende Länder:

-Äthiopien, Afghanistan, Iran, Libanon, Sri Lanka;

-die Senatsverwaltung für Inneres entscheidet, ob für andere Länder wegen der dort gegebenen Situation von Verfolgung oder menschenrechtswidriger Behandlung oder wegen anderer schwerwiegender Gründe (Kriegs- und Bürgerkriegszustand, Naturkatastrophen, Hungersnöte und ähnliche Konstellationen) Abschiebungen dorthin auszuschließen sind;

oder wenn

2.1.2 sie zu einer Gruppe gehören, deren Angehörige aus Gründen der Religion, der Volkszugehörigkeit oder aus ähnlichen Gründen im Herkunftsland unzumutbare Nachteile zu befürchten haben. Dies gilt derzeit für:

-Kurden aus der Türkei, aus dem Libanon, dem Irak, dem Iran und aus Syrien,

-Christen und Yeziden aus der Türkei,

-Palästinenser;

oder wenn

2.1.3 sie aus geschlechtsspezifischen Gründen im Herkunftsland Verfolgungen oder unzumutbare Nachteile zu befürchten haben.

2.2 Von der Regelung nach Nr.2.1 kann auf Antrag auch Gebrauch gemacht werden, wenn ein Asylverfahren eingeleitet wurde, aber nicht weiterverfolgt werden soll.

Die Regelung gilt nicht für Personen, die aus einem anderen Bundesland ohne berechtigten Grund nach Berlin zugezogen sind.

3. Erteilung der Aufenthaltserlaubnis

3.1 Die Aufenthaltserlaubnis wird zunächst für ein Jahr erteilt und sodann um zwei Jahre verlängert. Anschließend wird, sofern eine Gesamtaufenthaltsdauer von fünf Jahren bereits erreicht ist, bei Vorliegen der allgemeinen Voraussetzungen die Aufenthaltserlaubnis unbefristet erteilt; anderenfalls wird eine weitere Aufenthaltserlaubnis für zwei Jahre erteilt. (...)

3.2 Die Familienzusammenführung ist nach den allgemeinen Vorschriften zugelassen.

4. Ehemalige Straftäter

4.1 Für Personen, die wegen einer Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr ohne Aussetzung zur Bewährung verurteilt wurden, gelten die vorstehenden Regelungen nur mit der Maßgabe, daß zunächst eine auf drei Jahre begrenzte „Duldung auf Bewährung“ und erst danach eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.

4.2 Voraussetzung für die Duldung ist, daß aufgrund einer von der Strafvollzugsanstalt ausgestellten günstigen Gesamtprognose eine zukünftige Gefährdung der Gesellschaft nicht zu erwarten ist. (...)

4.3 Wird innerhlab der Zeit der „Duldung auf Bewährung“ erneut eine vorsätzliche Straftat begangen und erfolgt ihretwegen eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten, wird die Duldung beendet. Mit der Ausreiseaufforderung wird eine Ausreisefrist von drei Monaten eingeräumt.

5. Härtefälle

5.1 Zur Ausreise verpflichtete ehemalige AsylantragstellerInnen und Ausländer ohne Rückkehrmöglichkeit, denen eine Aufenthaltserlaubnis (...) nicht erteilt wird, können gleichwohl eine Aufenthaltserlaubnis bzw. Duldung auf Bewährung aus Härtegründen (wie gesundheitliche, familiäre oder geschlechtsspezifische Gesichtspunkte oder drohende Gefährdung bei einer Abschiebung in das Herkunftsland) beantragen. Für die Dauer des Asylverfahrens des Ehepartners wird aus Härtegründen von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abgesehen, wenn das Asylverfahren bereits 18 Monate dauert.

5.2 Der Antrag ist vor einer ablehnenden Entscheidung einer Härtefallkommission vorzulegen, die bei der Senatsverwaltung für Inneres gebildet wird. Die Kommission empfiehlt der Senatsverwaltung für Inneres, von der Abschiebung abzusehen und eine Aufenthaltserlaubnis oder Duldung auszusprechen, wenn die Abschiebung eine besonders gravierende Härte für den einzelnen aus persönlichen und allgemeinen Gesichtspunkten bilden würde. Die Entscheidung trifft die Senatsverwaltung für Inneres, bis zu ihrer Entscheidung unterbleibt die Abschiebung.

6. Fremdenpaß

AusländerInnen, denen nach dieser Weisung der Aufenthalt zu ermöglichen ist, erhalten einen Fremdenpaß, wenn sie weder einen Paß/Paßersatz ihres Herkunftslandes erlangen können noch einen Anspruch auf einen deutschen Reiseausweis nach der Genfer Konvention oder nach dem Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen haben.

7. Schlußbestimmungen

Die Zahl der nach dieser Regelung erteilten Aufenthaltserlaubnisse ist, gegliedert nach Staatsangehörigkeit, zu erfassen und halbjährlich - erstmals zum 31.Dezember 1989 - mitzuteilen.

8. Diese Weisung tritt am 21.Juni 1989 in Kraft.