Reibungslosere Krisenbewältigung mit Rot-Grün?

Ein Beitrag gegen falsche Hoffnungen und Illusionsmacherei über das Modernisierungsprojekt einer möglichen Koalition zwischen SPD und Grünen in Bonn  ■  Von V. Krieger und C. Schmidt

In der Tat: Seitdem die Grünen in Berlin und Frankfurt mitregieren und seitdem die bei diesem Geschäft störenden Positionen innerhalb der Grünen weitgehend abserviert wurden, ist Rot-Grün zur denkbaren Regierungsalternative für 1990 geworden. Gleichzeitig wurde in Berlin und Frankfurt auch schon der Rahmen dafür abgesteckt, was inhaltlich unter dem Vorzeichen Rot-Grün auf Bundesebene möglich sein wird.

Was die AL Berlin in den Verhandlungen positiv durchsetzen konnte, bewegt sich hauptsächlich im Bereich der politischen Kultur. An den Lebensbedingungen der Unterschichten und Marginalisierten dagegen wird sich aufgrund der Koalitionsvereinbarungen kaum etwas merklich verbessern. Die Sphäre der Ökonomie blieb natürlich vollkommen unangetastet. Rot-Grün in Berlin, das ist symbolische Umverteilung in den ohnehin defizitären Bereichen. Machbar ist nur das, was weit jenseits der Verwertungsinteressen des Kapitals liegt: Ein bißchen Frauengleichberechtigung hier, ein bißchen Ökoreparatur dort, mehr Bürgernähe und auch ein paar Schritte in Richtung einer multikulturellen Gesellschaft.

Nichts wäre ungerechter, als zu beklagen, in Berlin sei zu „wenig“ herausgekommen, weil die AL-VertreterInnen „schlecht“ verhandelt hätten. In Frankfurt gingen die Grünen bestens vorbereitet in die Verhandlungen. Deshalb haben sie auch den Kotau, zu dem die AL mit dem „Essentialpapier“ nach der Wahl gezwungen wurde, schon vorher vollzogen. In Erwägung, daß mit der SPD ohnehin nichts anderes drin ist, richteten sie ihr Programm von vorneherein auf die künftige Magistratspolitik zu: Müllverbrennungsanlage und Flughafen-Erweiterung, Wirtschaftsförderung und Bankenmetropole - mit den Grünen ist es zu machen. Wen wundert's bei einem solchen Programm, daß die Grünen in Frankfurt weit mehr als die AL Berlin „gestalterisch“ auf die Koalitionsvereinbarungen Einfluß nehmen konnten?

Grüne sorgen für Akzeptanz

Ob sie nun unfreiwillig reingerutscht oder mit Wonne hinein ins Vergnügen gesprungen sind - aus den Koalitionsvereinbarungen in beiden Städten ist deutlich ablesbar, welche historische Aufgabe den Grünen dort zugeschrieben wird. Sie sollen den kapitalistischen Modernisierungsprozeß ökologisch und sozial abfedern helfen und damit zugleich die gesellschaftliche Akzeptanz für seinen ungehinderten Vollzug sichern. Und vorausgesetzt, die Grünen schlucken die damit verbundenen politischen Implikationen, ist dieses Rot-Grün-Modell derzeit womöglich sogar besser als das Bündnis aus Unionsparteien und Wirtschaftsliberalen in der Lage, Krisenbranchen einigermaßen reibungslos abzuschmelzen, sowohl die neuen Mittelschichten als auch einen Teil der Marginalisierten ökonomisch und politisch zu integrieren, Ausländerfeindlichkeit im Interesse des Kapitals zu reduzieren und somit letztlich der Bundesrepublik Standortvorteile - gerade auch im Hinblick auf den Europäischen Binnenmarkt 1992 - zu sichern.1

Nichts anderes als dieses Modell von Rot-Grün ist es denn auch, das potentiell über die gesellschaftliche Mehrheitsfähigkeit verfügt, von der Fücks/Ulrich2 schwärmen:

„Friedenspolitik“, wenn sie nicht gegen die Nato-Interessen verstößt, ist gesellschaftlich durchsetzbar, seitdem erkannt wurde, daß die Öffnung osteuropäischer Märkte für das westliche Kapital durch unzeitgemäßes Säbelrasseln der Rechtskonservativen nur gefährdet würde.

„Ökologiepolitik“, wenn sie nicht gegen Wachstumsinteressen verstößt, ist gesellschaftlich durchsetzbar, seitdem erkannt wurde, daß ganze Branchen gut davon leben, daß der Anlagenbauer Babcock bereits 50 Prozent seines Umsatzes mit „Umweltschutz“ macht und Thyssen, der 25 Prozent aller FCKW -Kühlschränke entsorgt, vormachte, daß selbst aus dem Ozonloch noch was rauszuholen ist.

Die flexiblere Flexibilisierung

„Moderne Gesellschaftspolitik“ ist durchsetzbar, seitdem erkannt wurde, daß gerade die Mischung aus „Frauenemanzipation“, Teilzeit-Orientierung und neuer Mütterlichkeit am flexibelsten Flexibilisierung sichert. Und seitdem es wieder an qualifizierten Arbeitskräften mangelt, ist auch Antirassismus akzeptiert - sofern er sich als „multikulturell“ deklariert.

Damit ist auch gesagt, was nicht mehrheits- und gesellschaftsfähig ist. Nicht gesellschaftsfähig sind Atomausstieg und die Beendigung irgendeiner Ultragiftproduktion; nicht gesellschaftsfähig sind höhere Sozialleistungen und Spitzensteuersätze; nicht gesellschaftsfähig sind geregelte Arbeitszeiten mit freiem Wochenende; und vor allem nicht gesellschaftsfähig sind alle Maßnahmen, die der vom staatlichen Gewaltmonopol garantierten Eigentumsordnung zuwiderlaufen.

Diese Einschränkungen werden wettgemacht durch Suggestion. Damit beim Wort „Rot-Grün“ niemand auf die Finger guckt, wird das Maul besonders vollgenommen. Fücks/Ulrich geben sich mit einer simplen rechnerischen Mehrheit zum Mitregieren nicht zufrieden, nein, es muß schon die „Hegemonie“ (welch maßlose Überteibung), mehr noch, es muß eine „Gezeitenwende“ sein, die durch mächtige gesellschaftliche „Unterströme“ vorangetrieben wird.

Den Realos ist solches Geschwafel schon deshalb zuwider, weil es noch immer die - mittlerweile durch jede konkrete Erfahrung mit Rot-Grün ad absurdum geführte - Vorstellung beinhaltet, mittels einer SPD-Grünen-Koalition seien tatsächlich radikale gesellschaftliche Veränderungen zu machen. Dieser Illusion hängt die Realo-Strömung seit der Koalition in Hessen weiß Gott nicht mehr nach (weshalb sie ihren Namen inzwischen auch zu recht trägt). Knapp & Co. schrauben folglich alle verquasten und überhöhten Erwartungen der Aufbruch-VertreterInnen radikal herunter und sagen klipp und klar, worum es wirklich geht: „Wir wollen mitregieren.„3 Und völlig konsequent entlarven sie die Bemühungen von Aufbruch und Teilen des Linken Forums, Rot -Grün für 1990 als irgendwie radikales Reformprojekt zu protegieren, als Anachronismus.

Während also die Realos erkannt haben, wo der Hase langläuft, und versuchen, ihre Chance beim Schopf zu ergreifen, dienen sich nun die Aufbruch-VertreterInnen als die „besseren“ Realos an, die versprechen, „mehr“ aus Rot -Grün herausholen zu können („Wenn Koalition, dann so“). Doch mit ihren kraftmeierischen Sprüchen befinden sie sich nur auf einer Entwicklungsstufe, die die Realos schon längst hinter sich gelassen haben. Wir machen uns da keine großen Sorgen: Die Aufbruch-StrategInnen werden die letzten Eierschalen schon noch rechtzeitig abstreifen, bevor es wirklich so weit ist. Einstweilen versuchen die Realos mit Volldampf die programmatischen Ziele der Grünen der für sie vorgesehenen neuen Rolle anzpassen, denn die sind in der Tat eines der letzten Hemmnisse auf dem Weg zur totalen „Regierungsfähigkeit“. Nicht ungeschickt setzen sie dabei vor allem darauf, als „spezifisch grünes“ Element das Atmosphärische in der Regierungspolitik zu etablieren (daher auch die Entdeckung der „Kultur“ als Cohn-Bendits Ressort, das dann kurzfristig in „Multi-Kultur“ umgetauft wurde).

Faszinierend selbst für

die Opfer

Diesem „erfolgsträchtigen“ Realo-Projekt einer Modernisierungspolitik unter rot-grünem Vorzeichen kann die Linke derzeit nichts entgegensetzen, was unter den gegebenen Voraussetzungen ähnlich realisierbar wäre. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß die aktuell weit verbreitete Rot-Grün -Besoffenheit selbst vor den Leuten nicht haltmacht, von denen jetzt schon absehbar ist, daß sie die ersten Opfer der neuen Modernisierungspolitik sein werden: linke GewerkschafterInnen vor allem, aber auch zahlreiche Menschen aus ökologisch orientierten Bürgerinitiativen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß die Erkenntnis, daß tatsächliche Reformen im Sinne von Gesellschaftsveränderung die Bereitschaft zu massiver gesellschaftlicher Opposition voraussetzen, derzeit innerhalb der Grünen und ebenso in großen Teilen der Bewegungen weit weniger verbreitet ist, als sie es schon einmal war.

In einer solchen Situation ist es die klassische Aufgabe der Linken, den falschen Hoffnungen und der gezielten Illusionsmacherei über das neue Modernisierungsprojekt entgegenzuarbeiten. Für eine realistische Einschätzung dessen, was Rot-Grün konkret bedeutet, gehört es freilich auch anzuerkennen, daß das gegenüber Schwarz-Gelb oder Schwarz-Braun allemal die bessere Variante ist, und vor allem auch diejenige, die bessere Ausgangsvoraussetzungen für linke Oppositionspolitik schafft. Solche Überlegungen sind derzeit möglicherweise bei Linken außerhalb der Grünen weiter entwickelt als innerhalb. Berliner Autonome diskutieren jedenfalls ganz nüchtern und „unmoralisch“, welchen Nutzen das von ihnen politisch nicht mitgetragene Modell Rot-Grün in der Stadt für ihre eigene Politik hat.4 Ein solches funktionales Verhältnis zum parlamentarischen Geschehen werden sich auch linke Grüne aneignen müssen, wenn sie nicht im emphatischen Strudel von Hoffnung und Verrat ertrinken wollen.

Es ist völlig offen, ob es Rot-Grün auf Bundesebene überhaupt geben wird, und wenn, ob das so bald der Fall sein wird, wie es Aufbruch und Realos erhoffen. Mit der Europawahl ist deutlich geworden, daß auch nur eine rechnerische Mehrheit von Rot-Grün für 1990 unwahrscheinlich ist, mal ganz abgesehen von der Bereitschaft der SPD, ein solches Bündnis einzugehen. Die Realos propagieren nun das Bündnis auch mit der FDP, um Regierungsbeteiligung um jeden Preis zu sichern. Da auch diese Variante keine größere Realisierungschance hat als Rot-Grün, dient die Propaganda für eine „Ampelkoalition“ wohl in erster Linie dem Vorantreiben der innergrünen Anpassungsbereitschaft. Ohnehin wird die Hoffnung auf Rot-Grün in den nächsten Monaten hauptsächlich dazu genutzt werden, Programmrevisionen zu legitimieren.

Fördert Rot-Grün Rechtsradikalismus?

Doch 1994 ist auch nicht weit, und da ein rot-grünes Modernisierungsprojekt gewisse Vorteile gegenüber dem schwarz-gelben aufweisen kann, ist es nicht ausgeschlossen, daß es - nach einer Vorlaufzeit in einigen Bundesländern (Niedersachsen steht vor der Tür) - auf Bundesebene etabliert werden kann. Fest steht: Wenn es dazu kommen sollte, wird das vermutlich zu einer beträchtlichen Umstruktierung der politischen Landschaft führen:

Ziemlich sicher ist, daß auch eine rot-grün geprägte Modernisierungspolitik zu einem neuen Schub an rechtsradikalen Ressentiments führen wird, der dann vermutlich massiv von CDU/CSU aufgegriffen und ausgeschlachtet werden wird.

Weniger sicher ist, wie sich die sozialen Opfer des Yuppie -Deals, die politisch-gewerkschaftlichen GegnerInnen des Lafontaine-Kurses und die betrogenen Basis-Initiativen, die mehr wollten als Fischers Ökosubventionen fürs Kapital, reagieren werden. Zuversichtlich sind wir, daß das Einschwören dieser Leute auf Bonner Politik nicht mehr so bruchlos klappen wird wie in sozialliberalen Zeiten. Dazu ist der Ablösungsprozeß von Parteien und Parlamentspolitik sowohl in Bürgerinitiativen wie in Gewerkschaften zu weit fortgeschritten.

Wahrscheinlicher ist deshalb ein konfliktueller Umgang der Basis mit „ihrer“ Regierung, der in dem Maße, wie die Modernisierung hart durchgepowert wird, in grundlegende Opposition umschlagen kann. Für die Grünen wäre dieser Gang der Dinge selbstzerstörerisch. Denn schon durch ihre Integration in ein Regierungsbündnis und die damit zwangsläufig verbundene Revision programmatischer Zielsetzungen entziehen sie sich ein Gutteil ihrer eigenen Legitimationsgrundlage. Politisch überleben könnten sie dann nur durch den Austausch eines Großteils ihrer Wählerschaft, die entgegen anderslautenden Gerüchten gegenwärtig nämlich keineswegs nur aus integrierten Mittelständlern besteht. Folge davon wäre vermutlich die Entstehung einer neuen oppositionellen politischen Formation, für die die Grünen ebenso erledigt sind wie bei deren Gründung die Sozialdemokratie.

Wünschenswert ist diese Entwicklung nicht. Denn sie impliziert die Fähigkeit der Modernisierer, ihr Konzept ohne Rücksicht auf linke Opposition durchzocken zu können.

Wenn diese Fähigkeit so nicht gegeben sein sollte, wenn ein rot-grünes Regierungsbündnis nicht nur vor der zu erwartenden massiven Mobilisierung von rechts beeinflußt werden, sondern auch für den politischen Druck von links und von der rot-grünen Basis empfänglich sein sollte, dann wird es die Sache der Linken sein, diesen Druck zu verstärken und zu bündeln. Von den realen Eingriffsmöglichkeiten, die wir bei einer rot-grünen Koalition haben werden - ob es zum Beispiel gelingt, gemeinsam mit den GewerkschafterInnen konkrete Deregulierungsprojekte zu verhindern -, wird letztlich abhängig sein, ob wir als Scharnier zwischen Partei und außerparlamentarischer Basis dazu beitragen können, daß produktive Eingriffe in rot-grüne Politik organisiert werden können, oder ob wir ausschließlich Opposition dagegen mitorganisieren werden. Die Grenzen zwischen beiden Möglichkeiten sind fließend.

Daß heißt auch, daß wir es als unsere Aufgabe betrachten, Forderungen an Rot-Grün bereits sehr frühzeitig zu formulieren und gesellschaftlich zu verankern, um so die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß gegebenenfalls nach einer Etablierung von Rot-Grün soviel äußerer und innerer Druck wie möglich entfaltet werden kann. Mit einem Reformprojekt, das gesellschaftlich breit abgestützt und langfristig angelegt tatsächliche Eingriffe in einige Produktionsbereiche und Umstrukturierungen im Energiebereich und Sozialwesen vornimmt, ist das natürlich noch lange nicht zu vergleichen. So richtig es nach wie vor ist, auf ein solches Reformbündnis hinzuarbeiten - so absurd ist leider die Vorstellung, es wäre in den nächsten Jahren zu verwirklichen.

Anmerkungen:

1 Vgl. Michael Hanke, Thesen zur Veränderung der Parteienlandschaft nach Berlin und Hessen, 3/89

2 Ralf Fücks/Bernd Ulrich in der taz, 20.5.89

3 Udo Knapp/Norbert Kostede/Helmut Wiesenthal, Thesen zur Manifestdebatte. Vorschlag AG Regierungsprogramm, 5/89

4 Vgl. 'ProWo 1‘. Nullnummer