Berlin weist Berliner aus

■ Seit gestern werden neu ankommende Ostberliner und DDR-Übersiedler in die Bundesrepublik ausgeflogen / Verwirrung im Aufnahmelager Marienfelde

Der Senat hat gestern erstmals DDR-Übersiedler und Ostberliner in die Bundesrepublik ausfliegen lassen. Grund für die drastische Maßnahme: Das Durchgangslager Marienfelde und alle Notunterkünfte sind wegen der hohen Übersiedlerzahlen überfüllt. Seit Wochenbeginn versucht die Bundesaufnahmestelle in Marienfelde daher die Neuankömmlinge aus der DDR zur Weiterreise in die Bundesrepublik zu zwingen.

Dableiben darf nur, wer hier eine Arbeitsstelle, eine Wohnung oder Verwandte ersten Grades ( Eltern, Kinder, Ehegatten) nachweisen kann. Die neue Regelung ist bei den Betroffenen auf heftige Proteste gestoßen. Vor allem Ostberliner wehren sich dagegen, in die Bundesrepublik geschickt zu werden.

Mehrere Übersiedler berichteten gestern der taz, man habe ihnen den Entzug von Sozialhilfe, des Wohnheimplatzes und die Verweigerung des Wohnberechtigungsscheins angedroht, wenn sie in West-Berlin bleiben wollten. Einige mußten Verzichtserklärungen auf ihren Wohnberechtigungsschein unterzeichnen.

Vor allem Ostberliner und Übersiedler, die Verwandtschaft in West-Berlin haben, sind von der neuen Vorgehensweise der Behörde völlig überrascht worden. Zum Teil haben die Betroffenen jahrelang darauf gewartet, nach West-Berlin ausreisen zu dürfen: „Ick bin Berliner, ick geh doch nicht in ein Dorf“, protestierte der aus dem Ostberliner Stadtteil Friedrichshain eingereiste Wilhelm Schulenburg.

In der vergangenen Woche durfte er zu seinen Geschwistern nach West-Berlin ausreisen. Hier fand die Familienzusammenführung ihr jähes Ende: Weil Geschwister laut Definition der neuen Anweisung keine Verwandtschaft ersten Grades seien, sollte der Ostberliner nach Nordrhein -Westfalen weiterreisen.

Da DDR-Übersiedler dableiben dürfen, wenn sie Arbeit oder Wohnung nachweisen können, nehmen viele schlechtbezahlte Jobs an: Die Ostberliner Versicherungskauffrau Ute Preußner berichtete, sie habe sich innerhalb eines Tages einen Verkaufsjob in einer Boutique besorgt, um den Berliner Aufenthaltsstempel zu bekommen. Ihr neuer Stundenlohn: vier Mark.

Die Aufnahmebehörde in Marienfelde übe „massiven Druck“ aus, um die Leute zur Weiterreise in die Bundesrepublik zu zwingen, berichtete der Ostberliner Autor Jan Rymon. Er war nach einem Besuchsaufenthalt in West-Berlin nicht in seine Wohnung am Prenzlauer Berg zurückgekehrt. In mehreren Gesprächen hatten die Sachbearbeiter der Aufnahmestelle den Berliner zur Ausreise nach Hannover überreden wollen, ohne jedoch Rechtsgrundlagen für ihr Vorgehen zu nennen. „Die schwimmen und wissen selbst nicht genau, wie sie vorgehen sollen“, so Rymons Eindruck.

Bei den zuständigen Senatsstellen war gestern Widersprüchliches zu erfahren. Senatssprecher Haetzel erklärte, Ostberliner dürften nicht verpflichtet werden, in die Bundesrepublik auszureisen. Der Sprecher von Sozialsenatorin Stahmer, Gallon, erklärte dagegen, daß auch Ostberliner weiterreisen müßten. „Es ist uns nicht möglich, die ganze DDR hier anzusiedeln.“ Dieses Jahr seien bereits 8.800 Übersiedler gekommen. Übersiedler, die nicht nach Westdeutschland wollten, müßten ihren Wohnheimplatz räumen und hätten keinen Anspruch auf öffentliche Hilfe bei der Wohnungsbeschaffung. Weitere Sanktionen, wie die Einschränkung von Sozialhilfe seien zwar „in der Diskussion“, aber noch nicht aktuell.

Gesetzliche Grundlage sei das Bundesaufnahmegesetz von 1950: Demnach kann die Bundesregierung Übersiedlern einen ersten Wohnsitz zuweisen. Auf die massiven Proteste der betroffenen Übersiedler reagierte der Senat gestern mit einer Presseerklärung: Bei der „Weiterleitung von Übersiedlern werden Härten vermieden“, heißt es dort. Bei Übersiedlern aus Ost-Berlin solle „die Bindung an die Stadt berücksichtigt werden.“

mow