Der verträumte Steppenwolf

■ Topfavorit Pedro Delgado verpaßt den Start der 76.Tour de France

Berlin (taz) - „Ich bin der typische Spanier, der sich für alles interessiert, aber nichts weiß“, behauptet Pedro Delgado, der Vorjahrssieger der Tour de France, von sich selbst. Um diesem sokratischen Zustand höchster Weisheit abzuhelfen und schädliche Träume von sich fernzuhalten („An das Rennen zu denken ist schlecht, denn dann wachst du mit dem Gefühl auf, die ganze Nacht radgefahren zu sein“), pflegt der spanische Radprofi haufenweise Bücher zu lesen. Bei einer Rundfahrt begleitete ihn Gorbatschows „Perestroika“, bei der anderen Dantes „Göttliche Komödie“. Letztere nicht mit dem gewünschten beruhigenden Effekt: „In meinem Kopf herrschte die ganze Zeit das Inferno.“ „Das Kapital“ von Karl Marx interessiert ihn vorläufig nicht („zu alt“), die Lektüre von Solschenizyns „Archipel Gulag“ brach er gar ganz gegen seine sonstige Gewohnheit mittendrin ab: „Da war ich fünfzehn, und so viele russische Revolutionen konnte ich nicht ertragen.“

Unschwer zu erraten ist, was er vor dem Prolog zur 76.Tour de France am Samstag in Luxemburg gelesen haben muß: „The Big Sleep“ von Raymond Chandler. Als Delgado zum Start des 7,8 Kilometer langen Zeitfahrens gerufen wurde, war von ihm weit und breit nichts zu sehen. Seelenruhig hatte der 28jährige Topfavorit der Tour („Ich bin sehr kaltblütig.“) noch eine Aufwärmrunde gedreht und kam schließlich 2:40 Minuten zu spät angerollt. Lediglich sein Status als Vorjahressieger bewahrte ihn vor der Disqualifikation, die eigentlich fällig gewesen wäre, da er mehr als 25 Prozent langsamer war als der Sieger des Prologs, Eric Breukink.

Trost kann Delgado nun in seinem Lieblingsbuch finden: „Der Steppenwolf“ von Hermann Hesse. Wie ein solcher muß der verträumte Spanier jetzt den enteilten Herren Fignon, Roche, Kelly, LeMond, Mottet und wie sie alle heißen hinterherhetzen. Ein Unterfangen, das ein anderer Steppenwolf des Radsports, der allerdings eher einsam vorauseilte, als hoffnungslos einstuft. „Heute hat Delgado die Tour verloren“, lautete das unbarmherzige Verdikt des großen Belgiers Eddy Merckx.

Matti