DAS GEHEIMNIS DES DR. „LO SHU“

■ Andreas Hells Opernhaus in der „Galerie am Holtzendorfplatz“

Wie heißt „So blühe denn, Wälsungenblut!“ oder „So soll es sein! Siegfried falle!“ auf japanisch?

Wie zum Trocknen aufgehängte Seidentücher - oder Bettlaken

-baumeln Andreas Hells Zeichnungen seiner „Richard-Wagner -Stiftung“, einem Opernhaus für Tokio, von der Decke. Geht die Tür auf, dann flattert das Pergamentpapier und raschelt im Wind. Stationen eines Entwurfs wehen vorbei.

Nicht so luftig sind die Gedanken, denen Hells Opernhaus entsprungen ist, bemüht er sich doch um eine mythische Kraft aus altehrwürdigen Zeichen fernöstlicher Philosophie, um diese mit Wagners Geist aus dem Orkus zu verkuppeln. Heraus kommt eine deutsch-japanische Götterdämmerung, die der Jungsiegfried in seiner Baucollage beschwört. Architektur muß den wilden Gesetzen aus Wagners Opern gehorchen, wo Form und Inhalt in endzeitlicher Auflösung abdriften. Rettung, so scheint es, ist nur duch die architektonische Zauberei des „Rings“ zu erhoffen.

Ausgangspunkt des baulichen Gesamtkunstwerks ist „Lo Shu“, das magische Quadrat in der chinesischen Philosophie. In dessen Zentrum steht die Zahl fünf, zugleich Mitte wie Symbol metaphysischer Harmonie. Die Summe aller möglichen Reihen, inklusive der Diagonalen, ist immer gleich: nämlich 15. Hell läßt nun das mathematisch-kosmische Terrain auf dem orthogonalen Raster von Kyoto, Japans alter Kaiserstadt, tanzen, weil Quadrat und städtebauliche Geometrie sich decken, als seien sie aus einem Guß. Dann, auf dem Sprung ins Abendland, überträgt er die Struktur auf das geographische System der Mercator-Weltkarte, wobei sich die rechteckigen Planquadrate Kyotos in dem idealen Netz aus Längen- und Breitengrade so erweitern, daß sich eine lineare Verbindung herstellen läßt zwischen Tokio und Bayreuth, Wagners Opernmekka, die den Winkel von 9,2 Grad einschließt. Schließlich, das ist der Clou der Arbeit, verfängt sich in mannigfaltigen Überlagerungen aus Systemen, Formen und Winkeln ein monumentales Gebäude im Zentrum Tokios, das aussieht, als hätten die schlanken Mauern seines „Rings“ den japanischen Kugelfisch verschluckt, ihn aber nicht verdaut.

In einer Folge geistiger Explosionen, die wie Injektionen in den japanischen Stadtgrundriß eindringen, entwirft Hell aus baulichen Chiffren, Requisiten Wagnerscher Helden und mathematischen Figuren ein Opernhaus, dessen Baukörper einem System aus akademischen Ablagerungen gehorcht, die so in sich verschlungen sind wie Hagens Rachegedanken. Der Bau, ein Kreissegment (Eingangsbereich), an den sich eine riesige Kugel (Auditorium) anschließt, gefolgt von einer Hochhausscheibe (Bühnen- und Verwaltungsräume) und zwei rechtwinkligen Anbauten (Konservatorium, Werkstätten und Magazine), überblendet seine Einzelteile in ein Ganzes, wobei der eingeschriebene Winkel von 9,2 Grad ins Hundertfache multipliziert wird. Auf seinem Gipfel, einem kleinen Türmchen, steht ein Fernrohr, leicht nach oben gekrümmt, durch das man das ferne Bayreuth sieht, natürlich als Dia.

Im Glauben, Neues zu entwerfen, tüftelt der Wagner-Fan Hell ein Opernhaus aus Versatzstücken seines Übervaters aus. Das Revolutionäre an Wagners Musik und Operntheorie dringt aber dabei in die Architektur wie ein Fremdkörper ein und läßt fast alles zum Zitat werden. Selbst als Ansicht erscheint Bekanntes: Verwandelt sich die Kugel zum Reaktor und die Hochhausscheibe zur Wiederaufarbeitungsanlage, dann ist die Assoziation zur letzten „Ring„-Aufführung in Bayreuth nicht weit. Der „Ring“ wurde in einem Bühnenbild gegeben, das die Welt nach der Atomkatastrophe zeigt.

rola

Die Zeichnungen und Pläne von Andreas Hell sind noch bis zum 7. Juli in der Galerie am Holtzendorfplatz, 1-31, zu sehen. Mo-Fr, 17.30-20 Uhr.