Die Friedensbewegung in der Sinnkrise

Bonner Koordinierungsausschuß der Friedensbewegung ist in der Versenkung verschwunden / Will die SPD daraus politisches Kapital schlagen? / Unterschiedliche Einschätzungen zur Situation der Friedensbewegung / Konflikt um Aufruf zum 1. September  ■  Aus Bonn Charlotte Wiedemann

„Menschenmassen lassen sich zur Zeit nicht für Ziele auf die Straße bringen, die Genscher ähnlich formuliert wie der Koordinierungsausschuß. Von der Unaufrichtigkeit der Bundesregierung und der Parteien in Sachen Abrüstung hat die Friedensbewegung die Menschen nicht überzeugen können...“ Diese vernichtende Bilanz findet sich in einem Brief des örtlichen Bonner Friedensplenums an jene Organisationen, die bisher im „ZK“ der Friedensbewegung, dem Koordinierungsausschuß, versammelt waren. Dieses Gremium hat sich am vergangenen Freitag per Beschluß in die politische Versenkung zurückgezogen: Bis zu einer Orientierungsdebatte im Herbst werden alle Aktivitäten eingefroren und die Sprecher zum Schweigen verdonnert.

Die jetzt verordnete Abstinenz ist der vorläufige Tiefpunkt einer Sinnkrise, die bereits seit Jahren schwelt spätestens seit der Abschluß des INF-Vertrags dem Vertrauen in die klassische Rüstungskontrollpolitik zur Renaissance verhalf. Ob nun allerdings die Krise der Friedensbewegung insgesamt zu konstatieren ist oder nur das Scheitern jenes Gremiums an ihrer Spitze, darüber gehen die Meinungen auseinander. Nachdem zur angepeilten Großdemonstration dieses Jahres während des Berliner Kirchentags wenig mehr als 4.000 Menschen erschienen, war die desolate Situation nicht mehr zu beschönigen. Für die „Aktion Sühnezeichen“ war dieses Desaster der letzte Anstoß, aus dem Koordinierungsausschuß (KA) auszutreten. Die Kritik der Christenorganisation an der „Denk- und Handlungsblockade“ in diesem Bonner Zirkel wird auch von anderen Gruppen geteilt; auf Verwunderung stieß jedoch, daß „Aktion Sühnezeichen“ in ihrem Austrittspapier der Friedensbewegung gleichzeitig eine „dezentrale Stärke“ attestiert. Werner Rätz, für die Linksunabhängigen im Bonner KA, hält diese Einschätzung angesichts der Realitäten für „albern“. Auch Manni Stänner, Hauptamtlicher im Bonner Koordinierungsbüro, sieht als entscheidendes Problem, „daß Menschen ihre Anliegen in der Abrüstungsfrage eher bei Gorbi und den politischen Parteien als bei sich selbst aufgehoben fühlen“. Ob und wie dieses politische Klima durchbrochen werden kann, bleibt vorerst unklar. Bis zum Herbst wird auf Denkanstöße gehofft.

Vorgedacht hat man allerdings offenkundig schon bei der SPD. Denn während die KA-Vertreter, darunter auch Sozialdemokrat Gerd Greune, noch über die Zukunft grübelten, war bereits ein Brief aus der Bonner Baracke an einen ausgewählten Kreis von Organisationen unterwegs: Im Namen der SPD-Friedensinitiative IFIAS wirbt Gerd Greune um Unterschriften unter einen Aufruf zum Antikriegstag am 1.September, den der DGB gemeinsam mit „der Friedensbewegung“ veröffentlichen wolle. Der Verteilerkreis dieses Schreibens hat auffällige, politisch motivierte Lücken: Es fehlen die als DKP-nah geltenden Gruppen wie das KOFAZ-Komitee, aber auch linksunabhängige Zusammenschlüsse, die Konzepte des zivilen Ungehorsam verfolgen, von den Grünen ganz zu schweigen. Selbst das Komitee für Grundrechte war den Initiatoren anscheinend nicht reputierlich genug.

Thomas Schmidt, bisher einer der KA-Sprecher und als Vertreter der „Initiative Kirche von unten“ bei den Auserwählten, will „diese Ausgrenzungsstrategie“ nicht mitmachen und findet das Vorgehen „dreist“. Andere sprechen von „Leichenfledderei“: Die SPD nutze die Gelegenheit, um eine Friedensbewegung nach ihrem Gusto „neu zu definieren“. Sozialdemokrat Gerd Greune räumt ein, daß es wegen dieses Ausleseverfahrens jetzt „ein Gerangel“ geben könne, aber: „Der Kreis soll politisch so bleiben“, und dieses Spektrum sei auch relevant „für die Koordinierung künftiger Aktivitäten“. Den Vorwurf, die SPD wolle die Restbestände der Friedensbewegung instrumentalisieren, hält Greune für abwegig: „Die Gefahr ist doch eher, daß sich die SPD von der Friedensbewegung ganz abwendet.“