Boule auf dem Trottoir

■ Frankophiles auf Berliner Straßen

Legen oder Schießen“ ist die Alternative des einzigen Kneipenspiels, das außerhalb des Schankraums gespielt wird. Um einen kleinen Roten oder Weißen, um einen Calvados, einen Pernod mit Wasser und Eis oder um die Ehre.

Die Rede ist vom Boulespielen, dem Spiel aus Frankreich, für die jeder Mitspieler mit drei zirka 700 Gramm schweren Eisenkugeln ausgerüstet sein muß, um sie auf möglichst ebenen Sand- und Schotterwegen so zu plazieren, daß sie einer kleinen Holzkugel, dem Ziel oder dem „Schweinchen“ am nächsten liegen bleiben.

Auf dem Mittelstreifen der Berliner Schloßstraße vor der „Kastanie“ in Charlottenburg trifft sich seit Jahren eine neue frankophile Gemeinde, die im Herzen die Weltanschauung der Achtundsechziger und Einundachtziger trägt. Es wird auch nicht mehr allzu lange dauern, bis sich im Berliner Sprachgebrauch „Boule“ und „Cochon“ (Schweinchen) eingebürgert haben wie die Hugenotten das „Trottoir“ und den „Coiffeur“ mitbrachten, und heute das „Croissant“ und das „Baguette“ auf keinem Sonntagmorgenfrühstückstisch mehr fehlen darf. Die französischen Weine „Was haben Sie für Wein?“ - „Cote du Rhone“ kommt inzwischen jedem Kellner über die Lippen und der Champagner „Moet“, wenn es etwas Besonderes sein darf, sind aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Und wenn auch die Snobs in der Paris Bar Lebensart zu schlürfen meinen, obwohl es dort kein „Steak minute“ für 5,50 Mark mehr gibt, wird man auch dort noch jemanden finden, der einem über die Erfahrungen beim „Eisen werfen“ zu berichten weiß.

Mann und Frau sind gleichgestellt („Bist Du denn blöd?“) und können hier in einen gemeinsamen Wettbewerb treten, wenn der revolutionäre Kampf eine Pause verdient hat. Der dickbäuchige ehemalige SEWler, der sein Geld mit Kneipenrenovierungen verdient: „Du mußt immer an das Ziel denken“ ist dort genauso vertreten wie die AL-Basis in weiten Röcken und Hosen: „Der Weg ist wichtig“, der übriggebliebene Sponti: „Hau ihn weg“ und der Dogmatiker, der seine Anzugjacke ablegt und die Krawatte löst: „In den Regeln steht aber...“, und wenn der Autonome mit dem Bürger ins Gespräch kommen will, wird sich eine Parkbank finden.

Hier geht es allerdings nur um den richtigen Schwung aus Hüfte und Handgelenk: „Locker bleiben, locker bleiben“ für die beste Annäherung oder die gezielte Beseitigung einer gegnerischen Kugel. Hier wird mit Konzentration und Geschicklichkeit nichts weiter versucht als ein Stück Eisen zu bewegen. Hier zählt nicht der gelungene Wurf mit dem Pflasterstein und auch nicht der Entwurf einer pädagogischen Strategie fürs Jahr 2000.

Man kann sich der Bewunderung der MitspielerInnen und der ZuschauerInnen sicher sein, wenn Eisen mit einem spezifischen „Klack“ auf Eisen trifft, die eigene Kugel an Ort und Stelle liegen bleibt und die gegnerische wegfliegt. Was für ein Lustgewinn, wenn einem ein Wurf gelingt, mit dem niemand gerechnet hatte. Wenn man die Bodenverhältnisse lange genug studiert hatte und mit Hilfe einer unscheinbaren Unebenheit der rollenden Kugel eine Richtungsveränderung geben konnte, die sie in die Nähe des „Schweinchens“ bringt. Die Frustgefahr dagegen ist gebannt, weil man demselben Grund, der Unzulänglichkeit des Bodens, Fehlwürfe zuschreiben kann.

Boulespielen ist sportkulturell gesehen die Form von Kommunikation, die sowohl dezentral als auch multikulturell ins gesellschaftliche Leben dieser Stadt paßt. Man braucht dafür Wege und Plätze unter schattenspendenden Bäumen. Man haßt Asphaltierungen. Boulespieler meiden Rasenflächen und schützen ihre Anlagen. Boulespieler beanspruchen keine Fördergelder und dienen der Volksgesundheit durch Beuge- und Streckbewegungen. Man spielt im Stadtgebiet verteilt auf Nebenschauplätzen, weil einem der Massenbetrieb an Wochenenden dort nicht gefällt, unweit des Rathauses Schöneberg, vor der Gedenkbibliothek in Kreuzberg. Es gibt keine Sprachbarrieren. Das Regelwerk ist einfach, und wenn im Konfliktfall der Abstand gemessen werden muß, hilft einem eine Nachbildung des französischen Urmeters weiter.

Das Spiel trifft auch die Berliner Mentalität des Besserwissens, weil jede und jeder sich einmischen kann. Dazu braucht es manchmal nur den langen Finger, der auf die richtige Aufschlagstelle deutet oder das wilde Gestikulieren, wenn man meint, Gefahr sei im Verzug durch einen besonders riskanten Wurf. Sind im Bundesverband der Boule und Petanquespieler auch strenge Regeln vorgeschrieben, die die Beeinflussung der gegnerischen SpielerInnen verbietet, kämpfen die Amateure auf der Schloßstraße um jeden Punkt mit allen Mitteln der psychologischen Kriegsführung. „Ey Alter, Du bist nervös“, wird da gemurmelt, wenn sich ein Spieler in den Wurfkreis begeben, das Ziel fixiert, Maß genommen hat und Schwung holt. Bei manch einem reicht schon das Austreten einer Zigarette oder ein Schritt zur Seite.

Die friedliche Besetzung des Mittelstreifens hat zudem noch weitere Vorteile für die Berliner Bevölkerung. Der Weg ist sozusagen Hundekotfreie Zone, weil Hundebesitzer um die Argumente der Eisenkugeln wissen und lieber den Konflikten „Können Sie ihre Töhle nicht festhalten?“ um das Apportieren des hölzernen Schweinchens aus dem Wege gehen.

Touristen, die ihre Kugeln vergessen haben, Berliner und Berlinerinnen, die erst nach dem Urlaub in Frankreich überzeugt sind, daß sie nicht mehr ohne eigene Kugeln leben können, werden auf der Suche nach dem richtigen Gerät Schwierigkeiten haben, wettkampffähiges Material zu bekommen. In kleineren Sportgeschäften ist es noch aussichtslos, in größeren wird einem manchmal der Vorschlag gemacht, einen Achtersatz zu kaufen, der unter jeder Würde ist. Und selbst in dem größenwahnsinnigen Kaufhaus des Westens, in dem man angeblich alles bekommt, sind Boule -Kugeln nicht zu haben. Wer in Berlin neue Kugeln braucht, der kann einen Dreiersatz der Marke „Integral“ nur erhalten in dem Antiquariat „Skowronska“, Schusterusstr.28, Öffnungszeiten Mo bis Fr 14 bis 18, Sa 11 bis 14 Uhr. Und das auch nur, weil der Besitzer von dem Deutschlandimporteur bei einem Wettkampf ein Angebot dafür erhalten hat.

„Möge der Wurf gelingen“

Qpferdach