Zwille sein Miljöh

■ Berufskreuzberger, Autonomie und Unfug, Identität und Lebenslüge, Mythos und schleichende Weizsäckerisierung: Berlins provinziellster Bezirk

Im O-Ton: Till Meyer und Wiglaf Droste

Berlin-Tiergarten, eine Skulptur in der Nähe des Tempodroms, Aufschrift: Kubat ist Bewegung! Kubat lebt in uns weiter! Das Graffito erinnert wehleidig an die Besetzung eines Stückchens Ödland an der Mauer vor genau einem Jahr, an die Berliner Landverschickung in umgekehrter Richtung, an ein paar hundert Besetzer mit einem bestechenden Forderungskatalog: Autonom mit Pflanzen und Tieren leben, das Patriarchat abschaffen und den antiimperialistischen Kampf vorantreiben. Besser kann man die autonome Verwechselung von Selbsterfahrung mit Politik kaum auf den Punkt bringen: Das Sommerlager der Pfadfinder ist Bewegung. Das Sommerlager der Pfadfinder lebt in uns weiter. Treppenwitz am Rande: Als die West-Berliner Polizei, die das zur DDR gehörende Gelände sechs Wochen lang weder betreten noch räumen durfte, die Besetzer mehrfach darauf hinwies, daß unter ihren Lagerfeuern zentnerweise Munition aus dem Zweiten Weltkrieg herumlag, schallte es ihr entgegen: „Lüge! Lüge! Bullenstaat, wir haben dich zum Kotzen satt!“ Unmittelbar nach der Mauer-Flucht der Besetzer, die nur mit tatkräftiger Hilfe der (Ost-Berliner) Wachtmeister gelang, förderten die Bagger Bomben satt zutage - eigentlich müßte nach diesem rundum behüteten Pfingstlager zumindest bei einigen unserer Vorstadtrevoluzzer das identitätsstiftende Weltbild von den Bullenschweinen etwas ins Wanken geraten sein. Aber keine Spur davon. Statt dessen stellen sie sich für Tausende von Mauergaffern als mitleiderregende Pausenclowns zur Verfügung, bringen jeden politischen Begriff auf den Hund und in Verruf: Wer ins Survival-Camp will, soll das so nennen und nicht vom Imperialismus faseln.

West-Berlin ist das Irrenhaus der Republik, und Kreuzberg ist die geschlossene Abteilung. Ein paar Tage nach dem ersten Mai steht man in der Oranienstraße, ein Trupp Milchbubis aus Westdeutschland läuft vorbei und tritt erstmal kräftig gegen jedes parkende Auto. Natürlich ist erstmal jeder Siebzehnjährige, der den Wagen seines Alten klauen oder anzünden will, sympathischer als einer, der davon träumt, ihn zu besitzen. Aber dann soll es auch bitte Pappis Wagen sein und nicht der vom Türken nebenan. In Sindelfingen werden jetzt schon Busreisen nach Kreuzberg angeboten, Fahrt, Haßkappe und Pflasterstein alles inclusive für 29,90 DM. Das findet auch reichlich Zuspruch, kein Inhalt, kein Risiko, keine Folgen, sieht aber im Fernsehen oder auf dem 'Spiegel'-Titel gut aus und man hat was zu erzählen. Bei soviel Verwirrtheit wundert es kaum, wenn am 1. Mai 89 Zwille sein Miljöh und Putschpolizisten in einer Front stehen.

Das Schönste am vielbeschworenen spontanen Riot, ist seine Berechenbarkeit: turnusmäßig jedes Jahr am selben Ort und zur selben Zeit werden die pauperisierten Massen von ihm erfaßt. Den Raum für den Zoff am 1. Mai 89 haben die kämpfenden Truppen der abgewählten CDU und ihren Wasserträgern in den Chefetagen der Polizei zu verdanken, die ihn freudig und mit gespieltem Schaum vorm Munde den Rot -Grünen in die Gesundheitsschuhe schoben. Aber daß man sich in Kreuzberger Kreisen wenigstens mal zaghaft fragt, ob man sich nicht zum Hampelmann für die Rechten hat machen lassen, davon ist nichts zu hören. Geht auch nicht, darf auch nicht eingestanden werden, weil die Selbstverständnisgebetsmühle runterlitaniert werden muß: ich bin militant, also bin ich, also bin ich gut, muß also permanent Militanz beweisen, um überhaupt existent gut zu sein. Das ist die alte Krux mit dem selbstverliehenen Autonomenbonus: Wir sind die einzigen, die überhaupt was machen, und deshalb sprechen wir ein Kritikverbot aus und gestatten allenfalls interne, solidarische Kritik. Was soll das sein? Eine Schutzmechanik für den weichen Keks unter der harten Schale? Der AL-Propagandhi vom guten, gewaltlosen Widerstand muß man wirklich nicht aufsitzen, aber als Fundament einer Lebenslüge wird Militanz zur Karikatur. Zwanghaft werden bedeutungslose Aktionismusrituale zu strategischen Erfolgen umgelogen. Die Aufmerksamkeit, die jeder Zoff in allen Medien regelmäßig findet, wird von den Akteuren mit tatsächlicher politischer Bedeutung verwechselt. Das führt dann unter anderem zu diesem präpotenten Geschwätz von Zerschlagen! und selbstbestimmtem Leben - es wird sich nicht mal entblödet, das für Inhaftierte in den Knästen zu fordern! Selbstbestimmtes Leben im Knast bleibt immer noch Knast! Solche Hohlformeln aus der Kleinbürgermottenkiste im Schädel spazierenführen, den Staat um ein paar Brosamen anbetteln, das als Radikalität verscheuern und mit dieser Begriffs- und Bewußtlosigkeit verständigeren Menschen täglich auf die Nerven gehen, das bedeutet Kreuzberger Autonomie heute. Und dazu wirst du auf der Straße von unseren Helden auch noch dumm als Spitzel angewichst, weil du 45 bist, ein C&A-Hemd trägst und nicht drei Stunden darauf verwendet hast, dir den original authentisch-autistischen Elendslook zu verpassen - und das, obwohl jeder wissen müßte, daß ein Spitzel nicht wie ein Spitzel aussieht.

Eine Szene, die damit beschäftigt ist beziehungsweise wird, darauf stolz zu sein, daß sie sich jetzt SektiererInnen statt Sektierer nennen darf (und dafür von Klassenkampfstreber O. Tolmein auch noch gelobt wird), bringt natürlich auch Blüten hervor wie die Forderung, Wohnungen mit Klo auf halber Treppe nicht zu modernisieren, damit die Mieten nicht steigen - anstatt korrekte Wohnungen zu korrekten Preisen zu verlangen. Da wird kurzerhand die alte Forderung der Arbeiterbewegung nach menschenwürdigen Wohnverhältnissen unterlaufen und ausgehebelt von Mittelklassekids, die sich als Linke ausgeben. Die genauso bewußtlos Klauen und Plündern als proletarische Einkaufsaktion deklarieren - nichts gegen Klauen und Plündern, aber jeder Proletarier würde ihnen für diesen Spruch eins an die Löffel geben. Die Begriffe werden durcheinandergeworfen, wie man sie gerade braucht - man muß sie nicht mal mehr buchstabieren können, wobei das hilflose Okkupieren der Begriffe den Versuch spiegelt, Identität, über die man selbst nicht verfügt, abzugreifen: Proletarier, Verhungernder im Trikont - da wird die Identifikation dann obszön - oder, am allerliebsten, waffentragender Revolutionär. In den Unterstützergruppen der RAF-Gefangenen ist der schiere Vampirismus zumindest eine wichtige, wenn nicht sogar die dominierende Komponente. Wobei das Identifikationsmuster RAF aber derzeit Tücken aufweist: Nachdem im letzten Jahr die Weizsäckerisierung der Grünen und der taz konstatiert werden mußte, bahnt sich ähnliches offenbar im Kreise der RAF an: „Die Menschen müßen künftig im Mittelpunkt stehen.“ (Eva Haule) Für Kreuzberger Hardcores ist demnächst nicht nur die Haßkappe und der Vorderlader, sondern auch die Silberlocke Pflicht.

Mit geradezu erstaunlicher Behendigkeit springt die Szene von einer One-Point-Bewegung zur nächsten, von der Anti-IWF -Kampagne zum Hungerstreik, von dort zum Ersten Mai und jetzt auf die REPs, wo der antifaschistische Kampf nach bekanntem Muster ausgelutscht und zur Sinnstiftungskampagne heruntergewirtschaftet, in der Konsequenz also entpolitisiert wird. Prototypisch für die Kreuzberger Dorfguerilla ist ihre Geschichtslosigkeit: Wer zum Beispiel wg. Anti-IWF acht Monate eingefahren ist, rauskommt und in den Schoß der Bewegung zurückwill, steht vor dem Nichts, es sei denn, er hätte schon aus dem Knast den Geist der Zeit erkannt und auf Antifa umgeschult - ganz abgesehen davon, daß überführte SteinewerferInnen nach verbüßter Erziehungshaft zu den gesetzestreuen Bürgern werden, die sie immer schon waren, wie uns die Polizeistatistik lehrt. Antifaschismus ist Pflicht, basta, aber vor dem Kampf ist das Auge zu öffnen und der Verstand zu gebrauchen. Am Hitlergeburtstag am 20. April waren etliche Gruppen in Selbstschutzabsicht auf Kreuzbergs Straßen unterwegs, in Erwartung der medial hochgepushten faschistischen Horden mit Glatzkopf und Springerstiefeln. Die Dreigroschenjungen der Reaktion aber blieben weg, was die Kreuzberger Szene flugs als Erfolg ihrer antifaschistischen Wachsamkeit abbuchten. Tatsächlich aber versammelte sich mitten in Kreuzberg, im Hinterzimmer der am Paul-Lincke-Ufer gelegenen Kneipe „Ufergarten“, der REP-Kreisverband Kreuzberg und begrüßte ungestört das 98. Parteimitglied: „Noch zwei mehr, und dann hätten wir am hundertsten von Adolf unser hundertstes Mitglied feiern können.“ (O-Ton REP) Rechtsextremismus ist nicht nur drin, wo Rechtsextremismus draufsteht, und seine Bekämpfung ist zu elementar, als daß man sie den Annexionsansprüchen von Kreuzberger Politposeuren überlassen darf.

Ins Bild der Zerwirrnis fügt sich bruchlos die Kollaboration der Letzte-Hoffnung-Antifa-Front mit nationalistischen Türken, mit denen man lediglich den durchaus berechtigten Haß auf alles Deutsche teilt, ohne zu begreifen, daß man selbst Objekt dieses Hasses ist. Auch das ist eine Komponente der sogenannten Kreuzberger Mischung, die gern als buntes und vor allem harmloses Mit und Durcheinander von 68er Lehrer, Chaot, strebsamem Türken und Alki, als pittoreskes Ringelreihen der verschiedensten Generationen und Kulturen verkauft wird: ein Abziehbild aus der Berlinwerbung, ein Mystifix, an dessen Zementierung kräftig gearbeitet wird, gerade von den Befürwortern der multikulturellen Gesellschaft, die vom bunten Durch- und Miteinander schwärmen, um nicht von oben und unten sprechen zu müssen. Gerade das linksalternative Spektrum strickt am kräftigsten am Verwischungskonzept und gerät ins Schwärmen bei der Vorstellung, in einem türkischen Lokal von einem griechischen Kellner italienische Pasta serviert zu bekommen, und dabei vom Fenster aus polnischen Schiebern bei der Arbeit zuzusehen. Kreuzberg hat ein Herz für den wohlfeilen Billigzigan und den Freizeithanswurst aus dem Trikont; irgendwer muß schließlich arbeiten und für Abwechslung sorgen zwischen den Ritualen, in denen sich die Szene leerläuft.

Nach drei Jahren leben und arbeiten in Kreuzberg ist festzustellen: Hier geht es intoleranter und spießiger zu als in jedem Weinkaff an der Mosel, enger, engstirniger, kleinkarierter. Straffe soziale Kontrolle und linkes Blockwartwesen (Du hast wieder Papier in den Flaschencontainer geworfen) sind auf dem Vormarsch, ein schön anonymes urbanes Leben wird dem Gallisches-Dorf -Komplex genauso geopfert, wie die Möglichkeit, nach dem Tod unbehelligt und in Würde alleine vor sich hin zu schimmeln. Die permanente Selbstbespiegelung und -heroisierung der Berufskreuzberger führt unweigerlich zu Verblödung und Entpolitisierung. Unter Kommunikation versteht die Szene in der Regel Exkommunikation, Denk- und Sprechverbot inclusive, und deswegen ist jetzt Schluß.