Berlin Mitte, Eintritt frei

■ Zwischen den Dimensionen: Eine Stadt sucht nach Mitte und übersieht das Zentrum

Klaus Hartung

Mit der Lebenskraft der Teilstadt wirbt niemand mehr. Seit langem. Eine solche Berlinwerbung hatte ja ohnehin nur den Reiz eines Weihnachtsbasars in der psychiatrischen Anstalt gehabt. Nein, was die ehemals größte deutsche Industriestadt fast konkurrenzlos produziert und exportiert, als Rohstoff, Halbprodukt und Fertigware, das ist etwas, was nur altmodische Menschen für Grundnahrungsmittel von Intellektuellen halten: Absurdes, Widersprüche der authentischen Art, Melancholie als Stadtklima, deutsche Vergangenheit als Vorkriegsware, Menschen, die in der Uniform der Rebellion spazierengehen, Paradoxien mit Rundfahrtcharakter. Jedem Westdeutschen, der spürt, daß das Leben mehr bieten kann, mehr als alles, was die Fußgängerzone in Bielefeld bietet, bringt Berlin das nah, was man sich sonst fernzuhalten gedenkt, die Geschichte, die deutsche Frage und den ganzen unangenehmen Rest.

Berlin, das Museum oder das Endlager der deutschen Nationalgeschichte? Gewiß, vom Standpunkt des Mülls oder des Museums wirken die Widersprüche des Lebens nicht mehr sehr spannungsreich. Und das Berliner Alltagsleben hat gewiß etwas von der zersetzenden Wärme der Kompostierung. Die Stadt verwandelt alles, fast alles, die Paradoxien der eigenen Lage, die Wut der schwäbischen Landjugend, den Utopiebedarf westdeutscher Dissidenten und den Demokratiebedarf ostdeutscher Dissidenten - zu einer Art Kompost, den nur Optimisten Berliner Luft nennen. So hat sie es vor allem geschafft, die Konfrontation zweier Gesellschaftssysteme zu veralltäglichen. Aber trotz allem Anschein ist Berlin weder ein Museum noch ein Endlager, es ist ein dritter deutscher Zustand zwischen Gegenwart und Zukunft, es ist die Veralltäglichung deutscher Paradoxien, die Banalisierung von Exzentrik, ein Zustand, wenn man so will, im Medium der Ironie. Ironie als Daseinsform. Kein Wunder, daß die Ironie in der öffentlichen Sprache fast gänzlich fehlt; verdrossene Biederkeit die Politik beherrscht und selbst die Intellektuellen sich fundamentalistisch gegen die Überzahl der Widersprüche wehren. Denn der Berliner lebt gleichsam mehrfachbelichtet, lebt nicht nur im Hier und Jetzt, sondern zugleich im Dort und Dann, auf der einen Seite und zugleich zwischen etwas. Zwischen Ost und West, zwischen Kreuzberg und Nikaragua, zwischen Nationalsozialismus und Westtangente. Polemiker würden sagen, der wichtigste Teil Berlins liegt im Zwischen.

Im Zwischen liegt vor allem das, was in anderen Städten Stadtmitte heißt. Wer in WestBerlin von Nord nach Süd und dann von West nach Ost fährt, wird, sobald er sich dem Schnittpunkt nähert, eine Abnahme von Stadt bemerken. Je zentraler die Lage, desto mehr häufen sich die Einzelbauten, die Nachkriegsruinen, die Brachflächen. Innerstädtische Brache, Peripherien in Zentrallage. Die Stadt hat keine Mitte. Zwar gibt es die U-Bahnstation „Stadtmitte“, in Ost -Berlin. Aber da steigen nur noch wenige aus. Die nächste Station ist schon Endstation, „Thälmannplatz“. Randlage. Nun kann man sagen, daß der Verlust des historischen Zentrums und die Teilung der Stadt zu den wohlbekannten und verdienten Ergebnissen der deutschen Geschichte gehört. Und die Teilung hat eben quer durch die Stadt eine kilometerbreite Randlage gezogen. Aber, wer will schon mit historischen Fakten der kruden Art leben. Scheinbar kommt der mitteleuropäische Stadtbewohner nicht von der Idee der Mitte los, braucht sie für seine städtische Identität. Das Paradoxe ist nun, daß Berlin nicht nur ein historisches Zentrum hat, sondern auch eine rationalistische barocke Struktur, in der die Straßen sternförmig auf eine Mitte zulaufen. Folglich brechen die wichtigsten Straßenzüge in der Nähe der Mauer ab oder laufen ins Niemandsland hinein.

Seit dem Kriegsende nun wollte man sich hüben und drüben weder dieser Stadtvergangenheit nähern, noch konnte man sich von ihr trennen. Die Stadtplanungen zielten weder auf eine Zukunft der Teilung noch der Wiedervereinigung. „Berlin ist dadurch weder alt noch neu, weder Stadt mit einer Mitte noch eine Stadt, die ohne so etwas auskäme, weder eine Stadt noch zwei. Rücken an Rücken wachsen beide Stadthälften im zentralen Innenstadtgebiet aufeinander zu, heute in einer Art historischen Rekonstruktion der preußischen Residenzstadt zwischen den Linden und dem Hallischen Tor“, schreibt Hoffmann-Axthelm.

Natürlich haben beide Teilstädte sich um Mitten bemüht. Die Stalinallee im proletarischen Osten, eine monumentale Kulissenlinie mit viel Durchzug und HO, und der Kurfürstendamm im Westen, einst als „Neuer Westen“ durchaus ein Zentrum. Aber die urbanistische Verdoppelung von Kaufrausch produzierte keine Mitte. Auch der Breitscheid -Platz mit Rosenquarz, Skateboard-Fahrern, Mövenpick und Jungalkoholikern mag zwar lebendig sein. Aber eine Stadtkrone? In Ost-Berlin hat man es mit dem Fernsehturm als „Symbol des sozialistischen Lebens“ versucht, wie es der Erbauer Henselmann, verantwortlich auch für die Stalinallee, ausgerechnet in der Literatentaz rechtfertigte. Aber bekanntlich übersieht man einen so hohen Turm allzu leicht, und der innerstädtische Leerraum drumherum läßt eher nach der verlorenen Stadtmitte suchen. Konsequenterweise ist am Rande eine puppenartige deutsche Kleinstadt, genannt „wiederaufbau des Nikolai-Viertels“ entstanden.

Der Westen wiederum hat es mit dem Kulturforum versucht, eine Art Monumentalfriedhof der Architekten Scharoun und Mies von der Rohe. In der Mitte ganz neues Niemandsland. Schließlich wurde, mit der Internationalen Bauaustellung der „Zentrale Bereich“, die wichtigste urbanistische Planungsfigur, entdeckt. Ein sprechender Begriff: die Mischung der sehnsuchtsvollen Hungerleider der fehlenden Mitte mit der Ungeduld der Bürokratie, in der Mitte endlich Fakten zu schaffen. Der „Zentrale Bereich“ zieht sich vom Reichstag bis zum, „Gestapogelände“, eine Mischung aus Schnellstraßen, Brachgelände, Biotopen, Bahnhofsresten, Geleisen und monumentalen Bauten, die die Nachkriegszeit überlebt haben.

Aber diese innerstädtische Brache liegt nicht einfach an der Luft, sie ist luftdicht überlagert von Debatten, Hearings, Wettbewerben, Ansprüchen, Visionen, Vergangenheitsbeschwörungen und Ressentiments. Colin Rowe fordert einen „bedeutsamen Dialog zwischen res publica und res privata“. Ja, woher nehmen in West-Berlin. Die Stadt braucht Raum für 28.000 Wohnungen. Schon werden öffentliche Projekte vorgeschoben. Dieses Gelände, einst Ort und Zentrum der deutschen Katastrophe, ist Schauplatz einer Geisterschlacht um die Zukunft der Stadt, der deutschen Geschichte, der Weltgeschichte. Darunter ist in Berlin nichts zu haben, schon gar nicht die Mitte. Und das ist das Problem: in dieser Stadt ist die vierte Dimension überentwickelt, die Zeitdimension. Keine Stadtentwicklung ohne Vision der Zukunft, also ist die Gegenwart unterbelichtet.

Als die Polen Berlin als Markt entdeckten, versammelten sie sich genau an dem Platz, von dem aus Berlin nach Visionen ruft: im „Zentralen Bereich“, auf dem Gelände des ehemaligen Potsdamer Bahnhofs. Von dort vertrieben tauchten sie auf dem Kulturforum auf. Plötzlich gab es eine Mitte in Berlin, eine geradezu mitteleuropäische Mitte, jenseits aller Planungsaporien der Teilstadt. Und dort waren Polen. Wahrscheinlich hat das die zollamtliche Aggressivität letzlich ausgelöst: unsere vierte Dimension, unter der wir im Namen von bislang unentdeckten Visionen leiden, zum Markt für Eier und Würste degeneriert - nein, das war nicht hinzunehmen. Jetzt ist - der Polen wegen - der „Zentrale Bereich“ und das „Kulturforum“ vergittert. Langsam wird die Mitte real.

Man könnte meinen, daß die tausendfältigen Brechungen der alltäglichen Stadtexistenz, der paradoxe Alltag in der vierten Dimension, ein besonders anregendes geistiges Klima hervorruft; man könnte meinen, nichts würde die Ideen über die eigene Stadt mehr provozieren als die fehlende Mitte und ihr vielfältiges Spuken. Aber das Gegenteil ist der Fall. Eine tiefe Sehnsucht nach Biederkeit, nach Abbau der vierten Dimension herrscht hier. Die Kommentatoren - mich eingeschlossen - hatten das rot-grüne Votum der Berliner Wähler als eine Entscheidung fürs politische Experiment gedeutet. Eine falsche Interpretation. Wahrscheinlicher ist, daß der Berliner endliche Ruhe haben will vor der in Vergangenheit und Zukunft herumgeisternden Stadt. Die CDU mit ihrer Jagd nach dem Metropolentraum hat das Gegenteil bewirkt. Die Zukunft nach einem ruhigen und bequemen Hier und Jetzt liegt woanders, eben in der ökologischen Wende. Was brauchen wir die Mitte, holen wir die Vorstädte mit ihren verkehrsberuhigten Straßen, mit ihrer besseren Luft und dem kleinteiligen Grün ins Zentrum. Mit der rot-grünen Version von Berlin ist zumindest ein Zug der Nachkriegsentwicklung zum Erfolg gekommen: Berlin als Verbund von Stadtteilen und im geistigen Zentrum der öffentliche Verkehr, die BVG.