Der 89er Frühling

Wer ist das Volk in China?  ■ D O K U M E N T A T I O N

Nachdem China die langen, bitteren zehn Jahre der großen Katastrophe durchgemacht hatte, hatte es endlich erkannt, daß es den Weg der Modernisierung gehen müsse. Aber unter der Führung der KPCh wurden nur Wirtschaftsreformen zugelassen, auf politischem Gebiet hielt man nach wie vor an dem bürokratischen System der Einparteienherrschaft fest. Wo das Volk keine Freiheit hat, von der Regierung und der KPCh abweichende Meinungen zu äußern, müssen solche Wirtschaftsreformen, die nicht von politischen Reformen begleitet werden, immer weniger durchführbar werden.

Im Verlauf der Wirtschaftsreform sagte Deng Xiaoping oft: „Zuerst muß ein Teil der Menschen reich werden.“ Damals glaubten viele an seinen Reformwillen, auch glaubten sie an den Erfolg der Reformen. Weil die Leute sich so sehr darüber freuten, vergaßen sie aber Deng Xiaoping zu fragen, wer denn eigentlich zuerst reich werden sollte. Mit der weiteren Entwicklung ist heute die ganze Wahrheit ans Licht gekommen: „Jener Teil von Menschen“ sind die Beamten, die an der Macht sind, sowie ihre Verwandten und jene Beamten, die auf sie hören und ihnen gehorchen.

Ich erinnere mich, wie Mao Zedong damals sagte: „Wir müssen dem Volke dienen.“ Das Volk vergaß auch damals ihn zu fragen, auf welche Leute sich „das Volk“ beziehe. Später, als die „Revolution“ auf ihren Köpfen ausgetragen wurde, erkannten sie erst, daß nicht sie es waren, die zu seinem Volk gehörten. Auch in der heutigen Zeit, die immer noch von den „Mao-Zedong-Ideen“ angeleitet wird, sind sehr, sehr viele Menschen immer noch nicht aufgewacht.

In einem System, wo es keine politischen Reformen, kein ausgebautes Rechtssystem, keine Redefreiheit, keine Kontrollorgane und keine Kontrollsysteme gibt, sehen die Bürokraten, die an der Macht sind, keinen Grund nicht zuerst reich zu werden. Ihre Mittel, um reich zu werden, sind nicht Wirtschaftsführung oder Produktionssteigerung, sondern die Macht in ihren Händen, ihr Amtssiegel auszunutzen, um für die Genehmigung eines Antrags auf Geschäftseröffnung 1.000 oder 10.000 Yuan zu kassieren, ihre Macht auszunutzen, um Schiebergeschäfte durchzuführen. Eigenmächtig erheben sie Zölle, die Verwaltungsverfahren sind mannigfaltig und kompliziert. Schon geringe Steuereinnahmen und Bestechungsgelder lassen die Kosten für sämtliche Waren auf mehr als das Zehnfache steigen. Um weiter ihre Positionen und ihre Macht zu bewahren, kriechen sie auf der einen Seite vor den Oberen, bestechen sie, knüpfen Beziehungen, schützen sich gegenseitig, um so ihre „nepotischen“ Geschäfte machen zu können. Auf der anderen Seite pressen sie das Volk gewaltsam aus und schikanieren es. Egal was das einfache Volk machen will, immer muß es durch die Hintertür gehen; hat es kein Geld, kann es überhaupt nichts machen. Das ist das Ergebnis von Deng Xiaopings Lehre „nach dem Geld schauen“. Jene Beamten werden in China „Nepoten“ genannt. Sie kämpfen gegen die „bürgerliche Liberalisierung“ und unterstützen statt dessen die „autokratische Bürokraten -Liberalisierung“.

Diese Nepoten streben mit ihrer Macht nach Geld, um dann mit diesem Geld noch mehr Geld anzuhäufen. Sie setzen ihre Macht ein, um Spekulationsgeschäfte zu betreiben. Zur Hälfte kaufen, zur Hälfte rauben sie das staatlich an das Volk verteilte Getreide, Produkte und Güter und verkaufen sie zu einem hohen Preis weiter. Mit Macht und Geld häufen sie weiter mehr Geld an; ihre Methoden kennen keine Schranken. Bemitleidenswert ist das einfache Volk, das keinerlei Einfluß hat.

Ein Freund aus Schanghai erzählte mir, daß eine dreiköpfige Familie, ein Arbeiter aus Schanghai, seine Frau und seine Tochter, gemeinsam Selbstmord begangen hätten. Weil er selbst im Monat nur 80 Yuan verdiente, seine Frau ebenso, mußte die dreiköpfige Familie von diesen 160 Yuan (nach dem Umrechnungskurs nicht mal 50 DM) ihren Lebensunterhalt bestreiten. Als die Tochter erkrankte, reichte das Geld nicht, um sie durch die Hintertür ins Krankenhaus kommen zu lassen. Die Eltern liehen sich 3.000 Yuan zusammen, aber als das Geld aufgebraucht war, war die Tochter immer noch nicht genesen. Mit 160 Yuan im Monat, die nicht mal zum Essen reichten, und angesichts jener auch in ferner Zukunft nicht rückzahlbaren 3.000 Yuan gab es nur den Tod als einzigen Ausweg. Dies ist nur ein einziges Beispiel. Wer weiß, wieviele Menschen für das reine Überleben bittere Schmach erleiden, ja sogar ihren Körper und ihre Seele verkaufen müssen, um so diesen Nepoten und ihren Kindern Genuß und Amusement zu ermöglichen.

In einem solchen System, wo die Redefreiheit willkürlich mit Füßen getreten und entstellt wird, Druck ausgeübt wird, die Menschen ausgebeutet werden, wird die Unzufriedenheit trotzdem nur hinuntergeschluckt.

In einem solchen System gibt es keine Demokratie, das Volk hat keine Macht, fähige Leute auszuwählen. Die Einrichtung von Bürokratieposten wird von Bürokraten selber vorgenommen, und sie hängt von dem Willen derjenigen ab, die an der Macht sind. Diese Nepoten hängen also von diesem autokratischen System ab, sie saugen dem Volk das Blut aus, um sich unrechtmäßig zu bereichern. Ihre Kinder und Verwandten stützen sich noch mehr auf ihre besondere Macht. Sie wüten willkürlich, verschwenden beliebig, führen ein verdorbenes Leben. Sie wohnen in erstklassigen Wohnungen, tragen prächtige Kleidung, fahren in Luxusautos. Das alles ist eigentlich Gemeineigentum. Wo die Regierenden über eine absolute Regierungsmacht verfügen, weder gewählt noch kontrolliert wird, muß dies zwangsläufig dazu führen, daß sie selbst ihre Korrumpiertheit nicht mehr eindämmen können.

Um ihre Machtposition zu sichern, kriechen die Unteren vor den Oberen, die die Macht innehaben - die Oberen bilden, ebenso um ihre Positionen zu festigen, Flügel und organisieren Helfershelfer. Am sichersten ist es, die eigenen Kinder, Verwandte, alte Freunde und einige treue „Schluffen“ zu befördern und Fraktionen zu bilden. Wenn sich nur alle gegenseitig in Ruhe lassen, sie die Lage von „Stabilität und Einheit“ bewahren, dann können sie weiterhin aus dem Volk den Saft herauspressen. Deshalb ist es in diesem System ziemlich verbreitet, daß die Kinder in die Fußstapfen ihrer Beamten-Väter treten. Obwohl Chou Enlais Adoptivsohn Li Peng so arrogant und despotisch ist, auch keine herausragenden Fähigkeiten besitzt, drängten ihn doch alle, Premierminister zu werden. Der Vater Premierminister, der Sohn Premierminister - jeder kann noch mehr mit Fug und Recht seine eigenen Kinder, Verwandten und Freunde in Beamtenposten hieven. Die Pekinger Studenten stellten zur Information die Namensliste einiger bekannter Persönlichkeiten auf: Deng Pufang (Vorsitzender des Behindertenverbandes, ehemaliger Leiter der Kanghua-Firma): Sohn von Deng Xiaoping

Zhao Dajun (stellvertretender Generaldirektor der Hainan Huahai-Firma): Sohn von Zhao Ziyang

Yang Bai (Vorsitzender der Hauptabteilung für Politik der Volksbefreiungsarmee): Bruder von Yang Shangkun (Staatsvorsitzender)

Chi Haotian (Generalstabschef): Schwiegersohn von Yang Shangkun

Yu Zhengsheng (Bürgermeister von Yantai): Schwiegersohn von Zhang Aiping (Minister für Landesverteidigung)

Li Peng: Adoptivsohn von Chou Enlai, Verwandter des jetzigen Ministers für Landesverteidigung Qin Jiwei (...)

Natürlich gibt es noch einige Beamtenkinder, deren hohe Posten nicht aufgelistet wurden. Einige, die nicht so stark gekrochen sind, die sich nicht genug durchgesetzt haben, die zum Rücktritt aufgefordert wurden, die plötzlich ihre Macht verloren haben, hängen nun wie in Bedrängnis Geratene von einer winzigen Rente zum Leben ab. Einige schämen sich nicht mal, verzweifelt laut zu jammern. Bei denjenigen, die noch auf ihren Posten sitzen, hat das einen Gefühlszustand von „Macht haben, aber nicht nutzen können, nach einem bestimmten Datum verfallen“ hervorgerufen. Jeder Beamte verhält sich noch ungezügelter, und das Volk wird noch mehr ihrer willkürlichen Ausbeutung und Schikane ausgesetzt.

Mo Guohun, aus der chinesischen Studentenzeitung 'XiDe Qiaobao

(übersetzt von Beate Kayer-Zhang)