: Der Tanz um die goldene Bastille
■ Höhepunkt der 200-Jahr-Feier der Revolution: Ein Volksfest und die Eröffnung der neuen Oper
Die endlosen Festreden der Politiker zum „Bicentenaire“ und das monatelange Geschwätz von Historikern und anderen Intellektuellen über Revolutionsgeschichte, Guillotine und Menschenrechte hatten die Franzosen längst satt. Aber zum eigentlichen Festtag, dem 14.Juli, rafften sie sich noch einmal auf und tanzten die Nacht hindurch - nicht nur in ganz Paris, sondern auch in den Provinzen. Es war ihr Fest und das ließen sie sich weder von Mitterrands Megalomanie noch von seinen staatsmännischen Gästen vermiesen, die die neue Volksoper an der Bastille unter Ausschluß eben dieses Volkes einweihten.
Die Tour de France saust gerade durchs Rhonetal, doch Louis steht mit seinem Peugeot-Renner mitten auf dem Platz der Bastille, mitten im Revolutionsfest. „Weißt du, ich fahre spazieren, und mit dem Fahrrad geht es schneller“, sagt Louis, wischt sich den Schweiß von der Stirn und nimmt einen Schluck Mineralwasser aus der Rennradflasche. Dann erklärt er mit ruhiger Stimme: „Ich bin Pariser und Architekt. Das hier ist Paris und meine Stadt. Ich will alles sehen.“ Was gibt es denn zu sehen in der Pariser Revolutionsnacht? Mohammed hat eine Metro-Laterne erklommen und läßt sein Indianerauge schweifen: „Ich sehe hundert Kletterkünstler oben auf dem Podest der Bastille-Säule, und sie tanzen ohne Angst. Das sind die Totalverrückten. Weiter links vor der Kapellenbühne tanzen die Touristen und ein paar ältere Pärchen, es sind nur wenige Franzosen dabei. Am Rande stehen die Clochards und Voyeure. Die große Menge aber bewegt sich langsam im Kreis und trinkt Bier aus Dosen.“
Paris feiert die Revolution wie jedes Jahr - auf der Straße, mit Musik und Tanz. „Das Jubiläum ist mir egal, und mit den Ideen der Revolution will ich nichts zu tun haben“, ruft eine ältere Pariserin, aber dann staunt sie doch: „In diesem Jahr sind aber viele Leute hier.“ Unten am Seineufer hat Bürgermeister Chirac große Lautsprecher aufstellen lassen und einen Discjockey engagiert. Tausende rocken dicht gedrängt den Fluß entlang, und einige tragen tatsächlich die rote Sans-Culotten-Haube. „Das sind die Ausländer“, sagt eine Dame im Ausgehkleid.
Auf der Seine-Brücke steht Valerie, sie ist Schauspielerin und schaut sich die am Ufer Tanzenden an. Aus der Vendee ist sie angereist. Dort hatten einst die Revolutionäre die Familie ihrer Großmutter massakriert, aber das stört sie nicht beim Feiern. „Die Medien haben hier versucht, eine Psychose aufzudrängen, um uns das Fest zu verderben - vom Verkehrschaos bis zu Mitterands Megalomanie. Aber heute abend verläuft alles prima.“ „Ich bin für und gegen das Jubiläumsfest“, grübelt Literaturnobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez, auch er zu Gast in Paris. „Wir feiern eine Revolution, die sehr nützlich war, und die es heute nicht mehr ist.“ Doch in dieser Nacht denken die Pariser nicht allzuviel nach. Wahrscheinlich waren sich die Bastille -Erstürmer vor zweihundert Jahren über die Nützlichkeit ihrer Heldentat auch nicht im klaren.
„Das hier ist das Fest des Volkes zur Feier der Revolution. Und das ist alles.“ Punkt und Schluß. So jedenfalls befindet Rennfahrer Louis. Er kann auch aus anderen Teilen der Stadt berichten. „Überall sind die Leute auf den Beinen. Auf dem Place Gambetta und am Ostbahnhof gibt es die traditionellen Feuerwehrbälle. Da tanzen noch alle. Im Quartier Latin spielen die Straßenmusikanten vor den Cafes. Und auf den Champs-Elysees hatte ich eine Reifenpanne. Sogar ein Engländer hat mir bei der Reparatur geholfen.“ Auf der Straße, bestätigt Louis, ist die Völkerverständigung einfacher. Besaß nicht Maggie Thatcher die Frechheit, ausgerechnet in dieser Woche zu behaupten, daß die Menschrechte nicht in Frankreich erfunden wurden. Ministerpräsident Michel Rocard hat ihr auch prompt - im britischen Fernsehen noch dazu - die gehörige Antwort verpaßt: Sie mit ihrer „sozialen Grausamkeit“ im eigenen Land, die eines Tages sogar noch die Qualität der politischen Demokratie Großbritanniens beeinträchtigen könnte.
Egal - Monique, Christine und Chantal sind nicht nach Paris gekommen, haben nicht aus Anlaß dieser Nacht ihren Badeurlaub auf später verlegt, um über solche Kleinigkeiten zu streiten. „Das ist unser Fest, und nicht das von Mitterrand. Nicht alles dreht sich um ihn“, sagen die drei Schülerinnen mit offensichtlich fester Überzeugung. „Schau‘ dir die Bastille an, wie schön sie ist. Welch ein Symbol!“ eifert Chantal mit leichter Ironie. Immerhin, hübsch zurechtgeputzt und neu vergoldet ist die alte Säule auf der Bastille tatsächlich. Sie erinnert an die Julirevolution von 1830, als die Franzosen zum zweiten Mal die alte Monarchie stürzten. Die neue Volksoper am Platz schafft es nicht ganz, das alte Denkmal in ihren Schatten zu stellen. „Die Bastille ist schön, und die Oper zeitgemäß.“ Das treffende Urteil stammt von Leon, einem Bauarbeiter aus Guinea. Er hat nicht bemerkt, daß eine blau-weiß-rote Girlande vom reichen Revolutionsschmuck des benachbarten Cafes auf seine Schulter gefallen ist. „Heute ist das Fest der Revolution, und alle, die daran teilhaben wollen, können es nach ihrem freien Willen tun.“ Seit acht Jahren arbeitet Leon auf dem Pariser Bau. „Wir hier sind das Volk, aber ich schätze Mitterrand trotzdem sehr. Er macht eine Politik, die für viele Völker, und besonders für die armen Völker interessant ist.“ Hätte er Leon so reden hören, Mitterrand hätte vielleicht in den letzten Nächten besser schlafen können. Er soll doch sehr böse gewesen sein, nach dem großen Gegengipfelkonzert der Dritte-Welt-Solidaritätsbewegung am vergangenen Samstag.
Radler Louis war an jenem Tag auch schon unterwegs. „Ich mache da keinen Unterschied. Am Samstag genauso wie heute hat mich niemand beschimpft. Sonst ist das mit dem Fahrrad nicht immer so einfach.“ Gerade geht ein Knaller vor seinem Lenker los. „Hier ist man nicht aggressiv“, meint Louis dennoch unberührt. Und noch einmal knallt es vor seinem Fuß. Jetzt ist es an der Zeit, daß auch Louis sein politisches Geständnis dieser Revolutionsnacht liefert: „Ich bin ja nicht für Mitterrand, aber ich kann die Leute nicht kritisieren, die Ideen haben.“ Louis zeigt auf die hellerleuchtete Volksoper: „Mitterrand existiert immerhin zumindest als Denkmal.“ Liegt darin etwa die Quintessenz der ganzen revolutionären Jubiläumsherrlichkeit?
Georg Blume (Paris)
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