Nach(t)lese der 80er

■ Marcel Gislers „Schlaflose Nächte“ in Berlin

Hau weg den Scheiß - will heißen Schopenhauer: Nach fast zwei Stunden kommt der Hauptdarsteller Ludwig endlich zur entscheidenden Sinnfrage: Es fehlt die Notwendigkeit. Bleibt bloß die Frage, ob die Abwesenheit der Notwendigkeit das Überflüssigsein zur Folge hat. Was die Schlaflosen Nächte angeht, so geht es dem Film nicht besser als der Wirklichkeit. Außer einem dicken Kopf bleibt am nächsten Morgen meist nichts übrig. Allerdings gibt es genügend Leute, die dieses morgendliche Gefühl nicht missen mögen, und entweder ist der Film genau für diese Leute gemacht oder eben gegen sie: weder noch - was den Film zwar sympathisch macht, aber keinesfalls spannender.

Die Abwesenheit der Notwendigkeit bedeutet auch die Abwesenheit einer Geschichte, statt dessen gibt es Stimmungen, die mit Histörchen unterlegt sind. Alles ganz frei nach Godard - und rein zufällig ziert ein Filmplakat von ihm die Kochnische von Ludwigs Single-Bude. Ludwig ist intellektueller Jungeinsteiger in der Filmbranche natürlich ein mieser Job, verglichen mit dem großen Jean -Luc. Seine Freizeit heißt Fernsehen, Dosenbier - und Freundin Anne, die noch nicht so desillusioniert ist wie er: Sie betreibt das Fotografieren als Hobby und jobbt am Tresen, typischer geht's nicht mehr. Hier trifft man sich und sie zwei grüne Jungens aus Lüneburg. Fehlt bloß noch Silvia, die alternative Hausbesitzerin und alleinerziehende Mutter - gerade wegen ihrer Verklemmtheiten ist sie die schrillste und überzeugendste Figur im ganzen Film. Drumherum lauter Abziehbilder: durchgedrehte Kinder aus gutbürgerlichen Elternhäusern, Freaks und Philosophen von der Marke Freizeitexistentialisten, postmoderne Apokalyptiker.

Wenn die Nacht anbricht, beginnt die große Sause der multikulturellen Art - von Tokio über Paris zum Appenzeller. Dabei sind wir so frei und mischen noch ein bißchen Schwules drunter - ganz nach Art der Bergbauern. Die Szene - welche auch immer - spiegelt sich selber: Dagegen wäre gar nichts ein zuwenden - bloß geschieht das mit der Selbstironie des Voyeurs aus der Schaubühne-am-Lehniner-Platz-Perspektive. Das Lebensgefühl einer Generation, das hier geschildert werden soll, wirkt deshalb eher wie aus der Second-hand-Boutique zusammengestrickt, und das von einem Teenager, der zu schnell erwachsen werden wollte. Stimmig ist der Film nur in liebevollen Details, in denen die Figuren sich gerade nicht so verhalten, wie es eigentlich von ihnen zu erwarten wäre.

Eher gelangweilt folgt man also den Figuren zu den bekannten Orten - man kennt ja, jedenfalls in Berlin, den einen oder anderen -, das sichert den Wiedererkennungseffekt. Warum, so fragt man sich, will ein Regisseur gemischte Gesichter und bekannte Gefühle gerade in einer Atmosphäre beschreiben, die er weder mag oder haßt, noch überhaupt eine richtige Ahnung davon hat? Dieser „Little shop of Horrors“ - aller Action entkleidet - hat zwar durchgehend geöffnet, aber kaum was zu bieten.

Lutz Ehrlich

Marcel Gisler: Schlaflose Nächte. Mit Rudolf Nadler, Anne Knaak, Cordula Stepanek. BRD/Schweiz 1988, 99 Min.