Flüge der Phantasie

Isaac Asimov über Weltraumflüge in der Science-fiction-Literatur  ■ G A S T K O L U M N E

Seit 1.800 Jahren fahren die Menschen zum Mond - im literarischen Sinne -, doch die Beförderungsmittel, die sich die Science-fiction-Autoren vor dem 20.Jahrhundert ausdachten, um unseren Satelliten zu erreichen, waren allesamt untauglich. In der Antike und im Mittelalter glaubten die Leute, daß die Luft den gesamten Himmel bis zum Mond und darüber hinaus ausfülle und deshalb alles, was sich nur weit genug nach oben bewegte, den Mond erreichen würde. Im 2.Jahrhundert beschrieb der syrische Autor Lucian von Samosata eine Reise zum Mond, der erste bekannte literarische Trip dieser Art. Er hatte seine Helden in einen Wasserstrahl gepackt, mit dem sie auf dem Mond landeten. Die Geschichtenerzähler dieser Tage hatten kaum eine Ahnung von der wahren Entfernung zum Mond. Einige borgten sich ihre Ideen aus der religiösen Überlieferung.

Im Jahr 1516 schrieb der italienische Dichter Ariosto das epische Poem „Orlando Furioso“, in dessen Verlauf einer der Figuren zum Mond reist und dazu den feurigen Streitwagen benutzt, der den Propheten Elias in den Himmel trug. Der große deutsche Astronom Johann Kepler schrieb die Erzählung einer Mondfahrt, die erst nach seinem Tod 1634 veröffentlicht wurde. Er war der erste, der den Mond richtig beschrieb, mit Tagen und Nächten von jeweils zwei Wochen Länge. Doch auch Keplers Vorstellungskraft reichte nicht, ein brauchbares Beförderungsmittel zu erfinden: Sein Held wird von Geistern zum Mond transportiert - eine kaum praktikable Methode. Im Jahr 1638 entstand ein anderer imaginärer Mondtrip und wurde sehr populär, geschrieben von dem englischen Geistlichen Francis Goodwin und ebenfalls erst posthum erschienen. Godwins Held benutzte Schwäne, die eine Himmelskutsche ziehen.

Einige Jahre später, 1656, verfaßte Cyranus von Bergerac eine Mondreise-Geschichte, in der er nicht weniger als sieben verschiedene Methoden, den Mond zu erreichen, beschrieb. Alle außer einer waren unbrauchbar, wie etwa das Stehen auf einer Eisenplatte, die von einem in die Luft geworfenen Magneten hochgezogen wird, oder Flaschen mit Tau über den Körper auszuschütten, um sich sodann mit dem aufsteigenden Tau nach oben zu bewegen. Trotzdem: eine seiner Methoden waren Raketen, auch wenn sein Held sie nicht benutzte. Er nahm die Flaschen mit Morgentau. Zu Cyranos Zeiten war entdeckt worden, daß die Atmosphäre nur einige Kilometer hoch reicht und die Erde vom Mond durch ein gewaltiges Vakuum getrennt ist. Darüber hinaus machte Isaac Newton 1687 ziemlich deutlich, daß man sich in einem Vakuum nach dem Gesetz von Aktion und Reaktion vorwärtsbewegen könne, wenn die Anziehung der Schwerkraft einmal überwunden war - und das bedeutete Raketen. Doch aus welchen Gründen auch immer konnten sich die Schreiber für Raketen nicht begeistern, sie blieben bei ihren unmöglichen Vehikeln.

Edgar Allan Poe benutzte in seiner Geschichte Die einmaligen Abenteuer eines Hans Pfaal etwa um 1840 den Ballon, der 60 Jahre zuvor erfunden worden war. Da er wußte, daß die Luft mit zunehmender Höhe dünner wird, benutzte er ein imaginäres Gas, das nur einen Bruchteil des Gewichts von Sauerstoff hatte. Doch diese Geschichte war nicht ernst gemeint. Ernst meinte es hingegen Jules Verne, der seine Helden in der Geschichte Von der Erde zum Mond (1865) von einer gigantischen Kanone nach oben schießen lies. Seine Bücher sind sehr sorgsame Überlegungen über den Weltraum, aber Tatsache ist, daß die Beschleunigung durch eine solche Kanone jeden Menschen in Stück reißen würde.

Herbert George Wells veröffentlichte 1901 Der erste Mensch auf dem Mond. Daß dies die beste aller Geschichten über Mondreisen war, mag damit zu tun haben, daß H.G.Wells einfach der beste Science-fiction-Autor war, der jemals lebte. Die Vorrichtung, die Wells benutzte, war ein Gravitations-Isolator. Auf ein Schiff, das aus diesen Schwerkraft-Isolatoren gebaut ist, hat die Anziehungskraft keinen Einfluß, es könnte leicht zum Mond fliegen. (Um 1916 machte Einsteins allgemeine Relativitätstheorie klar, daß es eine solche Schwerkraft-Isolation nicht geben kann.) Ein neues Zeitalter dämmerte währenddessen in Rußland. Konstantion Tsiolkovsky begann 1903 mit mathematischer Präzision eine Raketentheorie auszuarbeiten, in den USA tat Robert H.Goddard unabhängig davon dasselbe und schickte 1925 eine kleine Rakete mit Flüssigkeitsantrieb nach oben. Erst von da an begannen die Science-fiction-Autoren, Raketen als Mittel der Mondfahrt zu verwenden, bis 1969 hatten sie es, ein halbes Jahrhundert lang, unzählige Male getan. Als am 20.Juli 1969 die erste Mondlandung Wirklichkeit wurde, war das für die Science-fiction-Welt keine Überraschung. Isaak Asimov ist amerikanischer Biochemiker und Schriftsteller russischer Herkunft. Seit den 30er Jahren hat er über 100 Science-fiction-Romane geschrieben. Seinen Text haben wird dem 'Observer‘ entnommen.