Jaruzelski knapp gewählt

Der polnischen Staatspräsident bekam nur eine Stimme mehr als die absolute Mehrheit / Jaruzelski favorisiert eine von allen Fraktionen getragene Regierung  ■  Aus Warschau Klaus Bachmann

Der erste Staatsmann, der General Wjciech Jaruzelski zu seiner Wahl als polnischer Staatspräsident beglückwünschte, war Gorbatschow. In einer Glückwunschbotschaft bescheinigte der sowjetische Staatschef seinem Warschauer Amtskollegen, er werde in der Sowjetunion als Initiator der „Politik nationaler Versöhnung und Sozialistischer Erneuerung“ geachtet. Mit der denkbar knappen Mehrheit von einer Stimme hat die Nationalversammlung in Warschau Jaruzelski am Mittwoch abend zum Präsidenten gewählt.

Nach seiner Wahl rief Jaruzelski erneut zur Bildung einer „Regierung der nationalen Verständigung“ auf. Anders jedoch als einzelne Oppositionelle dies vorgeschlagen hatten, ist Jaruzelski nicht für eine mehrheitlich oder gar rein aus Oppositionsmitgliedern zusammengesetzte Regierung. Jaruzelski - der in den nächsten Tagen den Ministerpräsidenten vorschlagen wird - favorisiert eine Allparteienkoalition mit einem oppositionellen Vizepremier und einigen Ministern des Bürgerclubs.

Obwohl die Kommunisten und die mit ihnen verbündeten kleineren Parteien 300 Abgeordnete der Nationalversammlung stellen, konnte der neue Paräsident nur 270 Stimmen auf sich vereinigen. Seine Wahl verdankt er nicht zuletzt denjenigen Oppositionsabgeordneten, die der Wahl fernblieben und so das notwendige Quorum für seinen Erfolg auf 269 herabsetzten. Von den 537 gültig abgegebenen Stimmen waren 270 Abgeordnete für, 233 gegen ihn; 34 Abgeordnete enthielten sich der Stimme, 16 blieben der Wahl - teilweise ostentativ - fern. Sieben Stimmen waren ungültig. Nur die Kommunisten hatten ihre Abgeordneten unter Fraktionsdisziplin gestellt.

Der Wahl vorausgegangen war ein über dreistündiges Hick -Hack um die Geschäftsordnung und insbesondere die Frage, ob der Präsident in geheimer oder offener Abstimmung gewählt werden sollte. Letztlich einigten sich die Abgeordneten auf eine Mischform: geheime Abstimmung mit namentlich Fortsetzung auf Seite 2

Siehe auch Seite 6

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gekennzeichneten Stimmkarten, die später veröffentlicht werden. Mit deutlichem Hinweis auf das knappe Wahlergebnis formulierte Lech Walesa seine Gratulation: „Wir erwarten, daß der neue Präsident sein Amt um so mehr in den Dienst der begonnenen Reformen stellt.“

In der oppositionellen Wahlkampfzeitung schrieb Adam Michnik gestern in einem Wahlkommentar, es hinge nun von Jaruzelski selbst ab, ob er als derjenige in die Geschichte eingehe, der auf Arbeiter geschossen habe, oder als derjenige, der für sich das Verdienst verbuchen könne, Polen aus einem totalitären System in eine parlamentarische Demokratie geführt zu haben. Während die Parteipresse das äußerst knappe Ergebnis nicht kommentiert, meinen oppositionelle Abgeordnete, es verpflichte Jaruzelski zu einer Politik des Ausgleichs und des Dialogs mit der Opposition. Mit seiner Wahl zum Präsidenten verfügt Jaruzelski jetzt über weitreichende innen- und außenpolitische Machtbefugnisse. Er ist nicht nur höchster Repräsentant des Staates, sondern

zugleich oberster Befehlshaber der Streitkräfte. Er kann, ohne Rücksprache mit dem Parlament für drei Monate den Notstand ausrufen und hat das Recht, das Parlament aufzulösen.