Im Schatten der Mauer wuchert die Idylle

■ Westberliner nutzen DDR-Gebiet vor der Mauer als Garten, Hühnergehege und Protestgelände / DDR grüßt und schweigt / Ein Bier „vielleicht beim nächsten Mal“ / Streit mit Gartenschlauch / Grenzpfähle fanden als Kompostbrüstung Verwendung

Wenn es sich Jonny Lendt besonders gemütlich machen will, stellt er seinen Liegestuhl neben den Birnbaum in seinem Garten und blickt voll Stolz auf sein Pflaumenbäumchen. An der Mauer zu seinem Nachbarn hat er im Frühjahr genau 165 Pflanzen gezogen - Sonnenblumen, Lupinen und Mohn. Seine Nachbarn kommen alle paar Monate vorbei, grüßen und schweigen: die Grenzposten der DDR. Das Land, auf dem der Kleingärtner sät und erntet, ist eine Art Niemandsland - der Streifen, der schon zum Osten gehört, aber noch vor der Mauer liegt.

Lendt ist einer jener West-Berliner, die in einer seltenen Symbiose mit dem Nachbarn im Osten leben. Sie nutzen den bis zu 20Meter breiten Streifen vor der Mauer als Garten, Hühnergehege, als Abstellplatz für Schrottautos oder als unangreifbaren Ort für Protest. Im Bezirk Kreuzberg harren seit Wochen 20 Wohnungslose auf einem Dreieck vor der Mauer aus - mit ihren Bauwagen, in denen sie leben und gegen die Wohnungsnot in der Stadt protestieren. Die Polizei kann nichts tun - denn der Streifen ist gleichsam rechtsfreier Raum. „Wenn ein Streifenwagen auch nur mit zwei Rädern auf dieses Gebiet gerät, wird das sofort notiert und bei nächster Gelegenheit als Grenzverletzung moniert“, erklärt Frank Sommer von der Innenverwaltung. Nur eine Räumungsanweisung der DDR könnte den Aufenthalt auf dem Gelände beenden - doch Ost-Berlin hält still. Ein Ultimatum, das zwei Offiziere am 7.Juli stellten, dementierte das DDR -Außenministerium kurz darauf.

Für mehrere hundert West-Berliner ist die Mauer ein Schutzwall - gegen Wind und Wetter. Zwei türkische Familien ziehen an der Kreuzberger Mariannenstraße vor der Mauer an Holzstangen Kletterbohnen und Tomaten - mit einem Bein im Osten. Nachbarn erzählen, daß die beiden Familien, die gerade in der Türkei Urlaub machen, einen regelrechten Pachtvertrag mit der DDR haben. Doch Naturalien als Entgelt gibt es für die Grenzposten nicht.

„Auch Bier nehmen die nicht, obwohl die jungen Kerls das doch mögen müssen“, wundert sich der Zimmermann Gustav Reich. Er lebt im Norden Berlins im Bezirk Reinickendorf. Alle paar Monate patrouillieren drei junge DDR-Soldaten durch sein Hühnergehege. Im Schatten der Mauer spüren Reichs zehn Hühner die große Freiheit. An zwei alten Grenzpfählen hat der Zimmermann je eine hölzerne Schwingtür aufgehängt, damit die Grenzer zwischen Gartenzaun und Mauer durch sein Gehege marschieren können. Darin tummeln sich die Tiere in ihrem Freigehege, picken auf dem DDR-Boden, kratzen mal an der Mauer. Die Nachbarn im Osten haben nichts mehr dagegen.

„Als sie das auf ihrem Patrouillengang vor zwei Jahren zum ersten Mal gesehen haben, haben sie die Türen ausgehängt und beim Nachbarn auf die Tanne geworfen. Doch seitdem ist das nicht wieder vorgekommen. Die machen die Türchen jetzt brav auf und wieder zu, wenn sie durchgehen. Die haben mir noch keinen Salatkopf und keinen Stachelbeerstrauch zerstrampelt“, lobt Reich. Bloß ein bißchen kurz angebunden seien die Jungs. „Die grüßen freundlich, aber reden is nich“, bedauert Zimmermann. „Als ich denen wieder ein Bier angeboten habe, hat der letzte mit der Kalaschnikoff immerhin schon geflüstert: 'Vielleicht beim nächsten Mal.'“

Seit 20 Jahren lebt Reich mit seiner Familie schon an der Mauer. „Das Grundstück wollte niemand haben, weil direkt daneben der Wachturm stand und die Jungs in den Garten gucken konnten. Doch die da oben haben nur meiner Frau mal nachgepfiffen, als sie im Badeanzug rumgelaufen ist.“ Reich fühlt sich wohl mit seinen Nachbarn. Wenn er an den Fall der Mauer denkt, wird ihm eher mulmig. „So ist das viel schöner, ruhiger, sicherer.“

Ost-Berlin quittiert die Landnahme von Westen fast gutmütig. „Die DDR hat der Nutzung durch Kleingärtner nie widersprochen“, sagt Mauerexperte Sommer von der Innenverwaltung. „Nicht mal gegen die Zäune des Springer -Verlags gab es Proteste.“ Der Konzern hat sein Bürohochhaus direkt an die Demarkationslinie gebaut. Zwischen dem Haus und der Mauer bleiben nur wenige Meter. Dazwischen hat der Verlag Stacheldraht gezogen, so daß niemand von hinten an das Gebäude kann. Schwingtüren wie bei Reichs Hühnergehege fehlen. Daß sich der Verlag damit auch gleich ein paar Quadratmeter Osten einverleibt, scheint die DDR auch nicht zu stören.

Bei Kleingärtner Jonny Lendt macht die „Landnahme“ fast ein Drittel seines Grundstücks aus. „150 Quadratmeter habe ich dazugewonnen. Das müssen Sie mal rechnen - bei 520 Mark je Quadratmeter.“ Natürlich mußte er das Gelände vor der Mauer erstmal urbar machen. „Da waren sieben, acht Betonpfeiler in meinem Garten, die habe ich langsam abgebaut und als Brüstung für meinen Komposthaufen verwendet.“ Doch das ließ sich die DDR denn doch nicht gefallen: Die Umrahmung seines Komposthaufens mußte Lendt wieder zurückgeben.

Nur selten kommt es zum Streit zwischen den Nachbarn. Vor zwei Jahren wurde die Mauer im Norden renoviert. „Da haben sie vor die Bauarbeiter große Gitter gestellt, damit die nicht abhauen“, erzählt der 24jährige Frank Mänken, dessen Garten ebenfalls an die Mauer grenzt. „Über die Gitter hingen die Äste unserer Esche drüber. Deshalb wollten die Soldaten sie absägen.“ Doch die Soldaten hatten nicht mit Franks Mutter gerechnet. Ihre resolute Nachbarin schnappte sich ihren Gartenschlauch und bespritzte die VoPos. Die Esche blieb stehen.

Anette Ramelsberger