Grell, intim und unverwechselbar

■ Tätowierungen: eine gesellschaftsfähige Modeerscheinung? / Selbst Bremer Politiker gehen zum Tattoo-Artisten

Zugegeben, diesmal ist die journalistische Neugier mit voyeuristischen Gefühlen gepaart. Ein wenig staunend stehe ich deshalb in der Reihenhaussiedlung im Bremer Norden vor dem dezenten Messingschild auf Mahagonitür: „Tattoo-Studio“. Mit den schmuddeligen „Tätowier-Stuben“ größerer Hafenstädte, die mich zur Recherche animierten, hat dies offenbar nichts zu tun. Drinnen sitzt der Künstler gerade über einer kleineren Routine-Arbeit, - aus T-Shirtärmeln ragen seine bilderübersäten Arme hervor, führen zügig und ohne Zagen die hochtourig summende Maschine über die Armkugel seines Kunden: Ein schwarz-roter Stern entsteht.

„Ist das Rot gut so?“ Kunde Adam K. nickt. Seine Gesichtsmuskeln arbeiten heftig. Die Schlagader pulsiert sichtbar. Was er mit dieser Tätowierung ausdrücken möchte? frage ich den Gepeinigten. „Ich will damit meine politische Einstellung ganz eindeutig nach außen kehren, und zwar unverwechselbar.“ Erkennungsmerkmal, Symbol von Abgrenzung und Gruppenzugehörigkeit sind Adam K.s Motive. Und er sieht darin einen „ganz individuellen“ Körperschmuck. Wie lange er sich diesen Schritt überlegt habe? „Zweieinhalb Jahre“, kommt prompt die Antwort. Ein Kumpel aus der Auto nomenszene hat Adam ins Tattoo-Studio begleitet. 40 Mark kostet die Prozedur - einschließlich 14facher Desinfektion, Heilverband und Merkblatt zur Nachbehandlung des Tattoos. Schmerzhaft sei das Tätowieren nicht, berichtet Adam, während sein Stern den letzten Schliff erhält. Lediglich ein kribbelndes Brennen sei zu spüren.

Gerard Bot bezeichnet sich selbst als „Tattoo-Artist“. In seinem bürgerlichen Leben ist der 40Jährige seit zwei Jahrzehnten Maschinenbauer bei Klöckner. Sein Studio besteht zwar erst seit fünf Jahren, mit Tattoo (das verfälschende deutsche Wort „Tätowieren“ ist unter Insidern ver

pönt) beschäftigt sich Gerard jedoch schon seit er kurz über 20 ist. Richtig lernen kann man diese in westlichen Ländern oft als anrüchig geltende, jahrtausendealte Kunst nicht: Sie wird normalerweise nur als Familientradition weitergegeben. Gerard, ein gebürtiger Holländer, nennt „einen der ganz Großen“, Tattoo Peter aus Amsterdam, seinen Lehrmeister.

28.000 Motive bietet Gerard inzwischen seinen Kunden in Katalogen zur Auswahl an. Fotografien seiner Arbeiten schmücken jedes Fleckchen in dem blitzsauberen Studio. Unter vielfarbigen Adlern, Drachen, Schmetterlingen, Blumenranken u.v.m. (das Segelschiff ist außer Mode) macht es oft Schwierigkeiten, das erwählte Körperteil überhaupt noch zu entdecken. Gerard nennt vor allem ästhetische Gründe, die seine Kunden (zum größten Teil seien dies Frauen) bewegen. Grundsätzlich macht das Tattoo vor keiner Grenze halt. Außer vor Händen und Gesicht, die weltweit Tabu für jeden verantwortungsbewußten Tätowierer sind - zum Schutz des Kunden vor der Aggression seiner Umwelt. Intimitäten-Piercing

bei Gerard

Gerard bietet (gegen Aufpreis) auch Piercing an - das Durchstechen nicht nur von Ohrläppchen, um goldene Ringe oder Herzchen auch an Schamlippen, Hoden und Brustwarzen zu „tragen“. Meistens ist derartiger Schmuck in großflächige, filigrane Tattoos integriert - beim Betrachten dieser Bilder wird's mir mulmig. Doch schon beim zweiten Blick

faszinieren nur noch die Bildinhalte, die Vorstellung der notwendigen Tattoo-Prozeduren verblaßt. Bot: „Masochisten sind bei mir beim falschen Mann.“ Er gehe ganz behutsam vor, vor allem auch: diskret, bestätigt Ehefrau Rosemarie, selbst nur auf dem Schulterblatt („und nur von meinem Mann“) tätowiert. „Beim ersten Mal mußte ich anschließend zwei Cognac trinken und stundenlang mit meinem Hund spazierengehen,“ erzählt Gerard von seinem ersten Intim -Piercing. Betäuben ist nämlich nicht erlaubt.

Doch nicht nur beim Intim-Tattoo („Leute sämtlicher Schichten lassen sich durch Tattoos verschönen, das hat nichts absonderliches und nichts mit Außenseitern der Gesellschaft zu tun“) ist seine Arbeit nervenaufreibend. Gerard Bot beruhigt sich mit Meditation, treibt Sport und verbietet sich jeglichen Alkohol. Gegen das penetrante Geräusch der bis

zu 5.000 mal pro Minute zustechenden Tätowier-Maschine (sie sticht ca. 1,5 mm durch die obere Haut bis zur Farbe haltenden Epidermis) trägt Gerard Ohrstöpsel: „Viele Tattoo -Artisten landen irgendwann bei Alkohol oder Drogen, weil sie meinen, so das Zittern der Hände vermeiden zu können,“ berichtet Bot aus dem Metier. Er gilt deshalb nicht nur in Bremen als einer der Seriösen. Etliche Zertifikate „branchenintern“ höchst auserlesener Clubs und Jurys zeugen davon. Rose am Schamhaar

Zu seinen Kunden zählt Bot zum Beispiel: Einen 71jährigen Witwer, der sich erst nach dem Tod seiner Frau den Jugendtraum nach einer Tätowierung erfüllen konnte. Einen Oldenburger Motorradfahrer, der sich in monatelangen Sitzungen flächendeckend illustrieren ließ. Einen Fan, der Brian Jones meterhoch auf dem Rücken trägt. Eine 60jährige Krankenschwester, die der schlaffer werdenden Haut an der Schamhaargrenze eine erblühende Rose entgegenhält.

Eine junge Frau, die sich jahrelang über ihre sich ständig zurückziehenden großen Brustwarzen ärgerte: Ringe halten sie jetzt „knospig“. Eine andere Kundin hatte sich als Kind bei einem Unfall die Brust schwer verbrannt und litt unter der riesigen Narbe. Jetzt schmückt eine Blume den Busen, „die Frau ist überglücklich“ freut sich der Tätowierer. Und wer neben Professoren und Ärzten sein prominentester Kunde aus dem Bremer Senat ist, behält Gerard eisern für sich...

Birgitt Rambalski