Gibt es eine Presse in Marokko?

■ Der Einleitungsartikel des Dossiers über die marokkanische Zeitungslandschaft in der März-Ausgabe der Zeitschrift 'Kalima‘.

An den Zeitungskiosken in Marokko stehen die Leser vor der Qual einer stattlichen Auswahl, zumindest diejenigen Leser, die drei Sprachen beherrschen.

Französischsprachige Zeitungen liegen Seite an Seite mit englischen und arabischen Publikationen. Doch die marokkanischen Tageszeitungen wirken inmitten dieser lebendigen Presse verstaubt, wie aus längst vergangenen Zeiten... Die Entwicklung scheint das knappe Dutzend Tageszeitungen in Marokko überrollt und sie gleichzeitig zahnlos gemacht zu haben... Eine regionale Tagespresse existiert überhaupt nicht, Casablanca und Rabat bleiben die einzigen Zentren... Jeder Titel gehört einer der im Parlament vertretenen Parteien - mit Ausnahme des 'Matin du Sahara‘ und des 'Maroc Soir‘, die jedoch auch mit der Machtelite verbunden sind. Neue Zeitungen gibt es nur, wenn neue Parteien geboren werden.

Selbst die kleinste Splittergruppe bemüht sich, über eine Publikation Gehör zu finden, wie unregelmäßig auch immer ein Beispiel ist 'Al Masser‘ von den USFP-Dissidenten.

Keine bedeutende marokkanische Tageszeitung bildet da eine Ausnahme. Das hängt mit der jüngeren Geschichte Marokkos zusammen, meint der Generalsekretär des Verbands der Zeitungsverleger Marokkos, Herr El Yazghi: „Unter dem französischen Protektorat wurde eine autonome nationale Presse nicht zugelassen, sondern nur solche Zeitungen, die Frankreichs Interessen verteidigten. Als in den 30er Jahren die ersten Zeitungen gegründet wurden, mußte vom Verleger eine beträchtliche Kaution hinterlegt werden, ehe eine Lizenz vergeben wurde.“ Das war in Tunesien, obwohl dieses Land auch dem französischen Protektorat unterlag, völlig anders. „Ganz einfach, weil die Oberbefehlshaber in beiden Ländern äußerst unterschiedliche Strategien verfolgten“, erläutert der Chefredakteur der in Rabat erscheinenden 'Al Alam‘, Herr A. Schemi. „Im Protektorat Tunesien war ein Zivilist an der Spitze, der das Land entmilitarisierte. Ein junger Tunesier mit Hochschulreife wurde zum Beispiel vom Wehrdienst befreit. Der Befehlshaber in Marokko war dagegen ein Offizier, der das Land eher militarisieren wollte. Das hatte Auswirkungen auf das Niveau des Schulsystems und der Presse. In Tunesien kann auch heute ein viel größerer Anteil der Bevölkerung als in Marokko lesen.“

Nach der Unabhängigkeit hat sich im Verhältnis zwischen politischen Machthabern und der Presse nichts geändert. Die Zeitungen all der Parteien, die aus der nationalen Unabhängigkeitsbewegung entstanden sind, koexistieren friedlich neben den Blättern der Regierungsparteien. Für El Yazghi sind die Parteien die einzige Garantie einer nicht von der Regierung abhängigen Presse. „In der derzeitigen Phase“, präzisiert Khalid Jamai, Chefredakteur von 'L'Opinion‘, können die Parteizeitungen eine enorme Rolle spielen, weil sie Journalisten eine gewisse Sicherheitsgarantie bieten können.“

El Yazghi meint, die Parteienpresse „ermögliche eine andere Sicht der Ereignisse als die offiziellen Zeitungen“. Die Behörden würden die Presse der Oppositionsparteien regelrecht hassen.

Eine freie Presse aber, das wäre eine, die sich frei äußerte, politisch intervenierte, die die Hand am Puls der Zeit hätte und Hintergründe recherchierte. Doch das einzige, was von der marokkanischen Presse wirklich verlangt wird, sind Propaganda-Aktivitäten. Sie soll sich auf die Berichterstattung der offiziellen Aktivitäten konzentrieren. Das ist insbesondere die Rolle, die der einzigen Nachrichtenagentur Marokkos, der 'MAP‘, zugedacht ist: ein Instrument der Regierung, das vorgibt, im Dienste der Presse zu stehen.

Wenn auch die Regierungspresse diese Propaganda-Rolle akzeptiert, so ist die Aufgabe der Oppositionszeitungen, die „eine andere Sicht der Ereignisse“ liefern sollen, nicht ganz so einfach.

Fast alle Verleger beschweren sich, sie erhielten keinen Zugang zu Informationen über die politische und soziale Realität des Landes. El Shemi verweist, um das zu verdeutlichen, auf den Besuch von Polisario-Vertretern in Marokko: „Wir erhielten die Meldung des Informationsministeriums erst, nachdem sie bereits durch die internationalen Medien verbreitet worden war. Zwar kursierten schon zwei Wochen vor dem Besuch entsprechende Gerüchte, aber da wir uns nicht auf Gerüchte stützen können, gab es für uns weder etwas zu berichten noch etwas zu dementieren.“

In ihrem Editorial vom 30. Januar 1989 kommentierte die (kommunistische, Anm.d.Übers.) Tageszeitung 'Al Bayane‘ die Flut von Dementis des Außenministeriums, nachdem Gerüchte zirkuliert waren, der Maghreb-Gipfel könnte von Marrakesch an einen anderen Ort verlegt werden. In solchen Fällen, schrieb 'Al Bayane‘, gibt es von den Behörden keine Informationen, sondern höchstens Dementis. „Doch in jedem demokratischen System“, fuhr die Zeitung fort, „ist das Recht auf Information ein zentraler Bestandteil. Dazu gehört, daß die Bürger, soweit irgendwie möglich, über den Ablauf der Ereignisse in Kenntnis gesetzt werden.“

Selbstverständlich besitzt jeder Journalist einen Presseausweis, der ihm seine Arbeit erleichtern soll. Doch real ist davon nichts zu spüren: Bei der kleinsten Statistik, bei jedem noch so bescheidenen Wunsch nach einem Interview sieht sich der Journalist vor verschlossenen Türen.

Schlimmer noch: Ein Journalist, der seinen Beruf ernst nimmt, riskiert das Gefängnis. So verbrachte zum Beispiel der Fotoreporter von 'Ittihad Al Ichtiraki‘ (von der Oppositionspartei USFP, Anm.d.Übers.) zwei Nächte in einer Gefängniszelle, weil er die Fassade eines Hotels fotografieren wollte, in dem Prostitution betrieben werden soll.

Der rechtliche Status der Presse ist Ausdruck dieser Situation: Obwohl die Verfassung ausdrücklich die Meinungsfreiheit erlaubt, ist die Zensur - unter verschiedenen Formen - allgegenwärtig. „Selbst lokale Machthaber“, beklagt sich der Direktor von 'Ittihad Al Ichtiraki‘, Lebrini, „können eine Publikation beschlagnahmen, nur weil ihnen eine Information über ihre Region nicht gefällt. Wer geht da schon das Abenteuer ein, das notwendige Geld für eine Tageszeitung zur Verfügung zu stellen, wenn sie von einem zum anderen Tag beschlagnahmt werden kann?“ Es gab zwar einige Versuche, doch sie sind alle gescheitert... „Im Pressewesen gibt es keine Garantien und keine Stabilität“, fährt Lebrini fort, „wir können nicht langfristig investieren, da wir niemals wissen, wie es uns morgen ergehen wird. Auch die Journalisten arbeiten unter ständigem Druck und ohne sichere Perspektive. Man muß ständig damit rechnen, am nächsten Tag schließen zu müssen...“

Die Presse hängt am seidenen Faden der politischen und gesellschaftlichen Konjunktur. In entspannten Zeiten kann die Presse der Oppositionsparteien halbwegs ungestört arbeiten - aber sowie die vorbei sind, bleibt keine Zeitung verschont. Man braucht sich nur an die Unannehmlichkeiten erinnern, denen 'Al Mouharir‘ oder 'Liberation‘ ausgesetzt waren. (Beide waren in Zeiten politisch-sozialer Unruhen verboten worden. Anm.d.Übers.) Dabei gab es keine legalen Gründe für das Eingreifen der Zensur. Kein journalistisches Selbstverständnis

Doch reicht das Fehlen einer wirklichen Presse- und Meinungsfreiheit nicht aus, um das niedrige Niveau der Presse Marokkos zu erklären. Neben enormen materiellen Problemen und der hohen Analphabeten-Rate, spielt auch die innere Logik der Parteienpresse eine zentrale Rolle. So stellen die Zeitungen mit ganz wenigen Ausnahmen in erster Linie Parteianhänger ein und keine professionellen Journalisten.

Meinung spielt folglich eine größere Rolle als Information. Der Streik, der von einer Gewerkschaft organisiert wird, die einer bestimmten Partei nahesteht, hat wenig Chancen, von der Zeitung einer anderen Partei wahrgenommen zu werden. Und wenn die Information publiziert wird, dann im Kommunique -Stil. Niemals gibt es echte Reportagen, die über die Hintergründe der Ereignisse aufklären. Lebrini betrachtet es als die Aufgabe von Radio und Fernsehen, also der staatlichen Medien, über alle Ereignisse zu berichten. „Das fordern wir ständig in unserer Zeitung. Eine Tageszeitung kann sich dagegen darauf konzentrieren, was für sie von Interesse ist. Man kann von ihr nicht verlangen, daß sie über Dinge berichtet, die dem Interesse der Partei, die sie herausgibt, zuwiderlaufen.“

Viel zu häufig noch sind viele Spalten der marokkanischen Zeitungen mit vagen Impressionen statt mit Informationen gefüllt. Redakteure und Schriftsteller bevorzugen Ereignisse, die eher sie selbst als die Leser interessieren.

Dennoch hat sich die Presse Marokkos in den letzten Jahrzehnten enorm entwickelt, meint Abou Chighaf, ein Journalist von 'Al Alam‘ (von der USFP, Anm.d.Übers.), der 20 Berufsjahre hinter sich hat. „Es setzt sich mehr und mehr ein journalistischer Stil durch. Heute zeichnen Journalisten, die im und vom Alltag einer Tageszeitung geformt wurden, die Artikel und nicht mehr Schriftsteller, wie in den ersten Jahren der Tageszeitungen.“

Doch es bleibt dabei, daß man eine marokkanische Tageszeitung nicht wegen der Informationen kauft - die liefern die internationalen Medien. Unsere Zeitungen sind nur die Thermometer für das allgemeine politische Klima und die Aktivitäten der jeweiligen Parteien.

Allerdings finden tatsächlich in der letzten Zeit auch Alltagsgeschichten, gesellschaftliche Ereignisse und selbst Untersuchungen und Recherchen Eingang in die marokkanische Presse. Denn die Leser sind begierig nach Informationen, die auf ihre Alltagsprobleme eingehen. „In Ägypten“, darauf verweist A. Shemi, „sind Alltagsprobleme der Menschen Aufmacher auf der ersten Seite. Das macht die Stärke der ägyptischen Zeitungen aus, die übrigens mit hoher Auflage verkauft werden.“

Wenn man unsere Presse also mit derjenigen in Tunesien oder Ägypten vergleicht, von der Situation in Europa oder in den USA - die fähig ist, den Sturz der Regierung auszulösen ganz zu schweigen, kann man sich wohl berechtigterweise fragen: Gibt es eine Presse in Marokko?

Übersetzung aus dem Französischen Thomas Hartmann